Das tibetische Orakel
erfahren, daß sie Mahlzeiten für zwei Ehrengäste zubereitet haben, die ihr Zimmer im ersten Stock nicht verlassen dürfen.«
Shan zeigte Nyma und den anderen das Papierpferd und schilderte, wie das zweite Gebäude von den Männern in den weißen Hemden nicht aus den Augen gelassen wurde.
»Wer bringt ihnen das Essen?« fragte Shan.
»Die Wachen«, sagte der Mönch enttäuscht. »Aber die Wachen gehen nicht hinein, um die Nachttöpfe zu leeren. Das sollen die Tibeter erledigen.«
Am Nachmittag halfen sie bei den Vorbereitungen. Shan hatte sich den Hut wiederum tief in die Stirn gezogen, spannte mit den anderen zunächst Seile mit Papierwimpeln zwischen dem Verwaltungsgebäude und der Außenmauer auf und trug danach Wacholderzweige zu den großen samkangs , die beidseits des Klostertors standen. Ein Lautsprecher verkündete, der Vorsitzende habe in seiner Güte gestattet, daß die Gebetsmühle auch außerhalb der üblichen Zeiten benutzt werden dürfe. Außerdem sei den Besuchern erlaubt, sich so viel von dem Yakdung mitzunehmen, wie sie nur tragen konnten, gern auch als großzügigen Vorrat für die heimatlichen Herdfeuer. Shan mußte unwillkürlich lächeln. Er brachte fast den ganzen Nachmittag damit zu, gemeinsam mit den Tibetern Körbe voller Dung zu schleppen, bis sein Gesicht vollkommen schmutzig war und die Weißhemden ihm schon von weitem aus dem Weg gingen. Er kam ein halbes dutzendmal an dem Küchengebäude vorbei, bis der Wächter auf der Treppe irgendwann eingenickt war. Shan blieb stehen und hielt vergebens nach einer Bewegung hinter den oberen Fenstern Ausschau. Als er berichtete, daß der Posten schlief, nahm Gyalo, der es bisher noch nicht wieder gewagt hatte, das gompa zu betreten, eine Handvoll Dung aus Shans Korb, beschmierte sich damit die Wangen, griff sich einen leeren Behälter und schloß sich Shan an. Er trug eine vielfach geflickte Weste und eine Halskette aus blauen Perlen, wie sie von zahlreichen dropkas bevorzugt wurde. Ein Hut mit breiter Krempe beschattete sein Gesicht.
Als sie die Küchentür erreichten, wo der Wächter immer noch schlief, erschien der alte tibetische Zimmermann im Eingang und winkte sie hinein. Er deutete auf zwei Eimer mit frischem Wasser und flüsterte dann einem Tibeter mittleren Alters etwas zu. Der Mann nahm einen Becher Tee und richtete eilends ein halbes Dutzend süßer Kekse auf einem Teller an.
Shan und Gyalo nahmen die Eimer und folgten dem Küchenhelfer durch den leeren Speisesaal und über eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort grüßte der Mann leutselig den Wachposten, streckte ihm die Kekse entgegen und bedeutete Shan und Gyalo mit einem Nicken, sie sollten sich zu dem Zimmer am Ende des Korridors begeben. Es lag über der Küche; seine Tür stand als einzige nicht offen, obwohl sie über kein Schloß verfügte.
Sie traten schnell ein, und Gyalo klappte die Tür sogleich hinter ihnen zu. In der Mitte der Kammer stand ein Tisch, auf dem ein Schreibblock und zwei Bleistifte lagen. Zwei Gestalten saßen auf Strohlagern unter den Fenstern und lehnten an der Wand.
»Lha gyal lo!« flüsterte Gyalo.
Tenzin hatte den Lotussitz eingenommen und ließ müde und hilflos seine Gebetskette durch die Finger gleiten. Sein Gesicht war blaß und entkräftet. Lokesh hockte mit geschlossenen Augen neben ihm und hatte die ausgestreckten Beine in eine Decke gewickelt. Argwöhnisch starrte Tenzin den Neuankömmlingen entgegen und musterte langsam Shan, als falle es ihm schwer, seinen Blick zu fokussieren. Als er Shan schließlich erkannte, verzog sich seine Miene gequält. »Sie verstehen es nicht«, stöhnte er. »Sie weigern sich zu glauben, daß ich das andere Leben hinter mir gelassen habe. Sie.«
Shan hob die Hand. »Ich weiß, dieser andere Mann ist erstickt, und ein neuer Mann wurde geboren.«
»Aber ich habe so viel Leid verursacht«, sagte Tenzin und schien in Tränen ausbrechen zu wollen. »Du darfst dich nicht fangen lassen. Nicht du auch noch. Da sind Wachen. Man wird dich.«
Shan unterbrach ihn, indem er auf Lokesh wies. »Was ist mit ihm?«
Die Hände seines Freundes hielten die mala umklammert. Er schien zu schlafen, und bei jedem Ausatmen erklang ein trockenes Rasseln.
Tenzin zeigte ermattet auf Lokeshs linken Fuß. »Sie hatten eine große Schraubzwinge. Das Werkzeug eines Zimmermanns. Aber dieser Tuan ist kein Zimmermann.«
Er sah Shan verzweifelt an. »Ich hätte nie gedacht, daß Menschen zu so etwas fähig sind. Ich mußte dabei
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