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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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aus dem ich hier bin.«
    Die kleine Glocke ertönte aus weiter Ferne; ihr erster Schlag klang wie ein Alarmsignal. Shan schreckte hoch.
    Es war noch vor Tagesanbruch. Er hatte unruhig geschlafen, weil Lhandro und Nyma dem Amerikaner im Schatten des Lastwagens unbedingt noch irgendeinen seltsamen Tanzschritt beibringen mußten. Die Glocke erschallte aufs neue. Etwas in ihm hatte gelauscht, ein Überbleibsel des lao-gai-Shan , der all die verschiedenen Glocken, Sirenen und Pfeifen der Kriecher und Wärter kennengelernt und sich gemerkt hatte, welche davon Wachen mit Gewehren herbeiriefen und welche die Posten veranlaßten, die Baracken zu durchsuchen oder einen Häftling zum Krankenrevier zu bringen. Allmählich wurde ihm klar, daß diese Glocke die Mönche zu ihrem ersten Morgengebet rief.
    Er stand auf, stieg über die schlafenden Tibeter hinweg und ging im grauen Dämmerlicht ein Stück auf das Klostertor zu. An einer der Säulen lehnte ein einzelner Aufpasser. Elektrische Lampen erhellten den Versammlungsraum. Die Mönche kamen aus ihren Unterkünften, die beide Seitenwände des gompa säumten, und betraten die lhakang.
    »Heute nacht sind zwei Wagen eingetroffen«, sagte eine Stimme an seiner Schulter. Somo. »Rote Flaggen, glaube ich«, fügte sie hinzu und meinte damit den Limousinentyp, der von vielen leitenden Beamten Tibets benutzt wurde.
    »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten«, sagte Shan. »Die Delegation aus der Bezirkszentrale, von der Tenzin erzählt hat.«
    Eine Stunde später beobachteten sie vom Lastwagen aus, wie die Mönche aus der lhakang strömten und Bänke und Kissen zu dem Hof vor dem Verwaltungsgebäude trugen. Aus dem Speisesaal wurde ein langer Tisch gebracht und vor den Hauseingang gestellt. Mit Hilfe von ein paar Brettern und einer Holzkiste als Trittleiter verwandelten mehrere Mönche ihn in eine behelfsmäßige Rednertribüne. Ein Mann in Hemd und Krawatte tauchte auf und befestigte eine weitere chinesische Flagge an der Vorderseite der Empore. Als die ersten Tibeter ins Kloster aufbrachen, mischte Shan sich unter sie. Der Wachposten achtete nur auf die Funktionäre.
    Das Bürofenster im ersten Stock öffnete sich, und ein großer Lautsprecher kam dort zum Vorschein. Es erklangen einige Hymnen, und dann wandte sich plötzlich jemand an die Versammelten. »Bürger von China«, sagte eine dünne Stimme. »Wir grüßen euch. Ihr, die Kinder der Industrie, wart es, die uns zu einer so großen Nation gemacht haben und auch in Zukunft unseren Ruhm mehren werden.«
    Das kam aus dem Radio. Jemand hatte die Feiertagsreden aus Peking auf den Lautsprecher gelegt. Ein aufgeregtes Murmeln erhob sich. Es war der oberste Vorsitzende höchstpersönlich, der sich da an die Nation wandte.
    Padme trat aus dem Haus und musterte unbehaglich die wirre Menge. Unter seinem Gewand trug er blaue Jeans. Er warf einen kurzen Blick zum Fenster hinauf, als überlege er, ob es nicht besser wäre, das Radio abzuschalten, und erteilte dann schnell die Anweisung, daß alle auf den Bänken und Teppichen Platz nehmen und gefälligst zuhören sollten. Es hätte unpatriotisch gewirkt, dem Vorsitzenden nicht andächtig zu lauschen, und noch viel unpatriotischer, die Rede wieder abzuschalten, nachdem sie erst einmal begonnen hatte. Den Posten schickte Padme zu den Tibetern im Lager, um auch ihnen die Teilnahme zu befehlen. Dann verschwand er kurz im Haus, kehrte gleich darauf ohne die Jeans wieder zurück und setzte sich auf einen der Podiumsstühle. Shan erinnerte sich an die Jeans, die sie bei dem verbrannten Kräuterfeld gefunden hatten, und wie Winslow dem Mönch später die gelbe Nylonweste von dort gegeben hatte. Als sie dann mit dem verletzten Padme beim Kloster eingetroffen waren, hatten die Mönche ihn schon aus größerer Entfernung erkannt. Weil die Weste, genau wie die Jeans, ihm selbst gehört hatte.
    Ein hochgewachsener grauhaariger Tibeter im dunklen Anzug kam heraus, begleitet von einem stämmigen Han in nahezu identischer Aufmachung, der hastig seine Krawatte zurechtrückte. Abgesandte des Büros für Religiöse Angelegenheiten. Die zwei stiegen auf das Podest und setzten sich neben Padme. Immer mehr dropka - und rongpa-Familien trafen ein und ließen sich auf den Teppichen vor der Klostermauer nieder.
    Während die Menge dann pflichtgemäß den Lautsprecher im Fenster anstarrte, beobachtete Shan, daß hinter dem Hauptgebäude zwei Männer in hellblauen Uniformen auftauchten und die Sanitätsstation

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