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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ansteuerten. Sie schleppten eine Trage, auf der ein alter Mann lag. Shan seufzte erleichtert auf. Offenbar war es Tenzin gelungen, mit Khodrak die abgesprochene übereinkunft zu treffen. Shan gab Gyalo ein Zeichen und schlich sich unauffällig mit ihm davon.
    Zehn Minuten später suchten Shan und Gyalo, die mittlerweile die weiße Kleidung des Küchenpersonals trugen, das Krankenrevier auf und erzählten dem Sanitäter, der dort am Eingang saß, man habe sie geschickt, um den alten Mann mit dem schlimmen Fuß abzuholen. Sie mußten weitere zehn Minuten warten. Dann öffnete sich die Tür der Station, und ein Mann in Blau winkte sie hinein. Um seinen Hals hing ein Stethoskop.
    »Er steht unter Beruhigungsmitteln. üble Sache, dieser Sturz. Ich mußte ihm einem Gehgips verpassen, um den Knochen zu stabilisieren. Er wird mindestens einen Monat lang Krücken benötigen.«
    Der Mann fing an, ein Formular auf einem Klemmbrett auszufüllen. Dann rief jemand, er solle sich zu den Feierlichkeiten gesellen; Vorsitzender Khodrak und die Gäste würden schon warten. Der Arzt seufzte und warf das Klemmbrett auf den Tisch. Plötzlich kam der Sanitäter zur Tür herein. Im ersten Moment ignorierte er Shan und Gyalo, doch dann hielt er inne und wandte sich langsam dem Mönch zu. »Das ist einer von denen!« rief er und deutete auf Gyalo. »Einer der Verbannten! Wir müssen sofort den Vorsitzenden verständigen!«
    Der Doktor keuchte erschrocken auf und warf einen Blick auf das Funksprechgerät, das in zwei Metern Entfernung auf dem Tisch lag. Er beugte sich vor und schien nach dem Apparat greifen zu wollen, als wie aus dem Nichts ein Seil über den Sanitäter fiel und dessen Arme fesselte. Noch bevor der Mann reagieren konnte, traf ein Holzpfosten seinen Kopf, einer jener Pfähle, an denen man draußen das Seil befestigt hatte. Der Sanitäter sackte zusammen und stieß dabei gegen den Arzt, der auf das Funkgerät zusprang. Eine hochgewachsene schlanke Gestalt segelte durch die Luft, und schon saß Winslow rittlings auf dem Doktor. Der Mann wehrte sich und zerrte an der Kleidung des Amerikaners. Winslow holte weit aus und schlug ihm die Faust ans Kinn. Der Arzt fiel reglos nach hinten.
    Grinsend betrachtete Winslow die beiden Bewußtlosen und sah dann Shan und Gyalo an. »Ich hab's ja schon die ganze Zeit gesagt: Was dieses Land braucht, sind ein paar gute Cowboys.«
    Er trug eine chuba; eine Armeewollmütze bedeckte sein helles Haar. Seine Wangen waren mit Erde geschwärzt. Irgendwann am frühen Morgen hatten er und Nyma einen Baum an der hinteren Mauer erklommen und waren so auf das Gelände des Klosters gelangt.
    Hastig banden sie die beiden Männer mit einer Rolle Heftpflaster aneinander, verklebten ihnen auch die Münder und schleppten sie in den dunklen hinteren Teil der Klinik. Der rückwärtige Bereich des Klosters war menschenleer. Sie trugen Lokesh schnell am Stall vorbei und zu den Meditationszellen, wo Nyma bereits hinter der Geheimtür wartete. Shan brachte die leere Trage zurück zur Sanitätsstation und lehnte sie neben drei gleichartigen Exemplaren an die Wand. Kurz darauf betrat er ebenfalls das Versteck, das von Winslows Taschenlampe erleuchtet wurde. Lokesh lag schlafend auf den Kissen, die Shan am Vortag gesehen hatte. Winslow stand mit Nyma am anderen Ende der Kammer und musterte die Regale. Im Lichtschein konnte man erkennen, was sich dort befand: Peche , mehr als ein Dutzend tibetischer Bücher, ein jedes eingewickelt in ein staubiges rotes Tuch. Shan widerstand dem Impuls, sich genauer mit den alten Bänden zu beschäftigen, warf einen letzten Blick auf Lokesh, trat hinaus in die Zelle und schloß die Geheimtür.
    Draußen auf dem Gang verharrte er einen Moment und fragte sich, ob er es wagen konnte, zur Versammlung zurückzukehren, wo seine Ankunft mitten in der Rede des Vorsitzenden womöglich auffallen würde. Er entschied sich dagegen und arbeitete sich statt dessen bis zur Rückseite des Bürogebäudes vor. Vorn sprach noch immer der Vorsitzende und nannte die Namen diverser Fabriken sowie besonderer Helden der Arbeit. Auf dem Pekinger Tiananmen-Platz hatte Shan solche Reden zum Maifeiertag sehr häufig über sich ergehen lassen müssen. Sie konnten durchaus eine Stunde oder länger dauern. Er betrat das Gebäude. Auf einem Tisch im ersten Raum stand schmutziges Geschirr neben einer eilends hingeworfenen Parteizeitung. An einem Wandhaken hing ein blaues Jackett. Shan streifte es sich über, schlich leise

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