Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
und mit den Fingern über die chinesischen Schriftzeichen strich.
    Dann nahm er aus den Händen des Amerikaners den Zylinder entgegen. Er besaß selbst eine solche Dose, die vermutlich noch älter als diese hier war und einst seinem Urgroßvater gehört hatte. Gegenwärtig lag sie bei den Lamas von Lhadrung in sicherer Verwahrung.
    Shan drehte am Ende des Zylinders. Es lockerte sich und ließ sich abnehmen. Er schüttete den Inhalt auf der Bank aus. Es waren lackierte Schafgarbenstengel, die sich im Laufe der Jahre gelblich verfärbt hatten.
    »Vierundsechzig«, sagte er angespannt. »Es sind vierundsechzig Stengel.«
    Er hob den Kopf und bemerkte die verwirrten Mienen um sich herum. »Man wirft sie, um das Tao zu befragen.«
    Er sah wieder Lepka an. Stengelmänner. Lepka hatte Alpträume über Stengelmänner gehabt. Shan wandte sich an Winslow und erklärte ihm schnell, wie man mit Hilfe der Stengel eine Kapitelnummer ermittelte: Man warf sie, teilte sie in Dreiergruppen und las danach aus der Anordnung eine durchgehende oder durchbrochene Linie ab. Nach vier Durchläufen ergab sich daraus ein Tetragramm, dessen Bedeutung jeder Schüler des Tao anhand der entsprechenden Tabellen auswendig lernte und das auf einen bestimmten Abschnitt des Taoteking verwies. So wie das Tetragramm, das Lepka völlig unerwartet am Mischsims gezeichnet hatte. »Als ich noch klein war, haben mein Vater und ich stundenlang solche Stengel geworfen und abwechselnd aus dem Tao zitiert«, sagte Shan leise.
    Er betastete noch einmal die Scherbe. Nachdem er nun wußte, worauf er achten mußte, war sie einfach zu entziffern. »Es ist auf tibetisch und chinesisch das Kapitel siebzig, und zwar die letzten Worte«, erklärte er, deutete auf die Schriftzeichen und sah Lepka an.
    »Der Erleuchtete trägt ein grobes Gewand, aber wertvolle Jade im Herzen«, rezitierte der alte Tibeter und starrte dabei die Stengel an. Jade. Das Jadefragment gehörte zu einem Ochsen. Die Statue hatte Laotse, den Weisen des Tao, und seinen Ochsen dargestellt. l Shan ließ Lepka nicht aus den Augen. »Als damals die Lujun-Truppen kamen, haben nicht nur Tibeter in diesem Tal gelebt«, sagte er.
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mir das Geheimnis kurz vor seinem Tod anvertraut.«
    Er sah Lhandro entschuldigend an. »Zwanzig oder dreißig Jahre vor den Soldaten sind andere Chinesen gekommen, um hier einen kleinen taoistischen Tempel zu errichten. Es waren Gelehrte, die wie Einsiedler lebten und sich bemühten, die Gemeinsamkeiten der Lehren des Tao und der Lehren des Buddha zu erforschen, weil sie die Kluft zwischen unseren Völkern überbrücken wollten. Manchmal kamen Mönche aus Rapjung zu Besuch, und dann diskutierten sie miteinander oder warfen die Stengel und erklärten uns die Verse. Das ganze Dorf kam und hörte zu.«
    Er sah Jokar an, der aufmunternd nickte.
    »Es gab mit ihnen keine Probleme, sie waren friedlich und legten Gärten für die Kräuter der Rapjung-Mönche an. Sie sprachen davon, wie wunderbar es wäre, wenn Chinesen und Tibeter gemeinsam die Mysterien der Heilung ergründen könnten, und sie haben sogar Unterricht bei den Lamas genommen.«
    Lepka schaute kurz zu den Armeezelten und richtete den Blick dann wieder auf den frisch umgegrabenen Boden. »Mein Vater diente in der tibetischen Armee und war nicht hier, als es geschah. Er sagte, diese Mönche hätten vermutlich versucht, die chinesischen Soldaten aufzuhalten und das Blutvergießen zu verhindern. Aber nach dem Abzug der Soldaten war niemand aus Yapchi mehr am Leben, um die chinesischen Mönche zu verteidigen. Als die Leute aus den umliegenden Dörfern kamen und all die Leichen fanden, sind sie durchgedreht.«
    Er sah nun nur noch Shan an, als lege er ein Geständnis ab und als müsse er diese Geschichte unbedingt einem Han erzählen. »Mein Vater sagte, die chinesischen Mönche hätten wahrscheinlich ihre Hilfe bei der Bestattung der Toten angeboten, aber die Menschen waren zu wütend.«
    Zu wütend auf Chinesen, meinte er. Die Leute kamen, wurden rasend vor Zorn und wollten sich rächen. Keine Soldaten, sondern Bauern und Hirten. Shan blickte zu dem Schädel in der offenen Kiste. Diesen Mönch hatte man mit einer Hacke erschlagen.
    »Hinterher konnten sie niemandem davon erzählen«, sagte Lepka verzweifelt und rang die Hände. Seine Frau stand hinter ihm und hielt seine Schulter. »Falls die Tat sich herumgesprochen hätte, wäre die chinesische Armee zurückgekehrt. Also

Weitere Kostenlose Bücher