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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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haben unsere Familien den taoistischen Tempel niedergebrannt und unter einem Gerstenfeld verborgen.«
    Dem alten Mann liefen Tränen über die Wangen. »Später erfuhren die Mönche von Rapjung von der Tat. Sie kamen und beteten für alle, die gestorben waren, auch für die Chinesen. Dann ließen sie die Leute das Grab öffnen, das für die Dörfler angelegt worden war, und alle noch auffindbaren Überreste der Mönche ebenfalls dort bestatten. Alle Familien, die an den Morden beteiligt gewesen waren, mußten versprechen, ihre Erstgeborenen ins gompa zu schicken, damit sie dort zu dobdobs ausgebildet würden und so etwas nie wieder passieren könnte.«
    Er schaute zu dem furchteinflößenden Dzopa. Verteidiger der Tugenden hatte Chemi die Mönchspolizisten genannt. »Mein Bruder war einer von ihnen«, sagte Lepka, »aber er ist in Rapjung gestorben, als Maos Kinder kamen.«
    Auf einmal ertönten an der Plattform laute Stimmen, und jemand forderte die Arbeiter auf, sich von dort zurückzuziehen, damit die Ehrengäste Platz nehmen könnten. Die Stühle und Bänke füllten sich schnell mit Chinesen und Tibetern in Anzügen. Oben an der Treppe stand Jenkins' Sekretärin, begrüßte die Gäste, überreichte ihnen einen Zettel mit dem Programm der Veranstaltung und schaute häufig zu einem der Armeezelte, vor dem sich eine große Traube Soldaten gebildet hatte. Dort mußte Lin mit Anya sein. Andere Soldaten patrouillierten bewaffnet auf dem Gelände.
    Professor Ma hatte aus Dzopas Rucksack eine Decke genommen und über dem bewußtlosen Posten ausgebreitet, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mann wieder zu sich kommen und es neuen Ärger geben würde. Von der Plattform stieg einer von Lins Offizieren auf ein Podium und ging zu einem dort aufgestellten Mikrofon. Dann hob er einen hölzernen Zeigestock, deutete auf die Ruinen des Dorfes, die kahlen Hänge und sogar auf den verkohlten Fleck, an dem der bemalte Felsen gelegen hatte, erzählte unterdessen vom heldenhaften Beitrag der Volksbefreiungsarmee zur Erschließung des Tals und wies auf die Soldaten hin, die das Lager weiträumig abgesichert hatten.
    Shan blickte noch einmal zu der Decke. Sie war weiß, zwar ziemlich verdreckt, aber weiß und mit Rußspuren. Dzopas Decke. Dzopa, der mit Jokar aus Indien hergekommen war. Shans Sicht schien kurz zu verschwimmen, und er sah noch etwas vor sich, diesmal vor dem inneren Auge. Er sah Jokar nachts dasitzen, eingewickelt in Dzopas Decke. Und er sah Drakte wegrennen, panisch, mit großen Schmerzen, auf der Flucht vor Tuans Weißhemden, die ihn verfolgten, ihn fangen wollten und ihm womöglich auflauern würden. Shan sah Drakte stehenbleiben, weil vor ihm plötzlich eine weiße Gestalt auftauchte, sah Drakte einen Stein in die Schleuder legen und einen Schuß auf Jokar abgeben. Das Schaudern, das ihn überkam, verriet Shan aus irgendeinem Grund, daß er die Wahrheit gesehen hatte.
    Jemand erklomm zielstrebig die Stufen der Plattform und zog die erwartungsvollen Blicke der Sitzenden auf sich. Es war Jenkins, der mittlerweile ein sauberes blaues Hemd und eine rote Krawatte trug. Ihm folgten ein halbes Dutzend Männer, die ähnlich gekleidet waren, darunter zwei Westler. Als Jenkins beiseite trat und die Leute heranwinkte, entdeckte Shan eine weitere Gruppe, die sich in der Nähe versammelte. Oder versammelt wurde. Die Soldaten trieben mehr als fünfzig Tibeter Richtung Plattform. Wahrscheinlich die zwangsverpflichteten Arbeiter, denn mehrere von ihnen nickten Lhandro unauffällig zu.
    Schließlich kamen Direktor Zhu und eine ältere Frau in dunkelgrauem Kostüm, die zum Schutz vor der Sonne einen Strohhut aufgesetzt hatte, und nahmen auf den letzten beiden Stühlen in der ersten Reihe Platz. Zhu kniff die Augen zusammen und schaute zu der Grabungsstelle, zu Shan, Jokar und Tenzin. Sogar aus dieser Entfernung konnte Shan seine plötzliche Erregtheit erkennen und beobachtete, wie Zhu einen der Soldaten der Kriecher zur Plattform beorderte und in ihre Richtung deutete. Der Kriecher machte einige Schritte und blieb dann stehen, weil ein Armeeoffizier etwas rief. Der Mann rannte die Treppe zur Plattform hinauf, sah zum anderen Ende des Tals und sprach dabei hektisch in ein Funkgerät. Gleich darauf lief er zu Jenkins und deutete mit siegreichem Lächeln nach Süden.
    Shan konnte nicht hören, was gesagt wurde, aber nach der Aufregung des Offiziers zu urteilen, hatten die Soldaten irgendeinen weiteren Erfolg erzielt. Die Männer

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