Das tibetische Orakel
Rektor, und Professor Ma darf seitdem nicht mehr unterrichten, sondern muß sich auf die Forschung beschränken.«
Shan musterte den alten Han, der etwas an Khodrak entdeckt zu haben schien, das er nun genauer untersuchen wollte. Was machte der Professor da? Lepka hatte gesagt, er sei ein guter Mann. In einem anderen Leben hatte er als chinesischer Mönch womöglich auf sanfte Art versucht, die Kluft zwischen den Völkern zu überbrücken.
Shan befand sich nicht in Hörweite, aber Ma und der Vorsitzende von Norbu gompa schienen sehr leutselig miteinander umzugehen. Dabei nahm der Professor Khodrak von Kopf bis Fuß in Augenschein, betrachtete die elegante Robe, die vortrefflich gearbeiteten Ledersandalen und die echten Perlen der Gebetskette, die an seinem Gürtel hing. Nach einem Moment deutete er auf den Bettelmönchstab, den Khodrak ihm daraufhin zögernd hinhielt. Der Professor strich über das kunstvoll verzierte Metallende, und dann geschah etwas Merkwürdiges: Die Männer schienen beide an dem Stab zu zerren, bis Khodrak ihn Ma mit einem Ruck entriß und verärgert weiterging. Der Professor blickte ihm seltsam enttäuscht nach. Eine der Kriecherwachen lief zu Khodrak und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Vorsitzende sah zu der Grabungsstelle, und seine Augen begannen zu funkeln. Er hatte Jokar entdeckt.
Die Musik verklang. Jenkins trat an das Mikrofon, als wolle er eine Rede halten, doch sein Blick war auf die sonderbaren Vorgänge an der Grabungsstelle gerichtet. Die Menge schien es ebenfalls zu bemerken und wurde allmählich leiser.
Ma eilte plötzlich an Khodrak vorbei und stellte sich wie zum Schutz vor Jokar. Lepka gesellte sich hinzu, als würden Jokar, Ma und er - die drei ältesten Männer vor Ort - sich plötzlich verpflichtet fühlen, dem Vorsitzenden von Norbu Widerstand zu leisten. Khodrak runzelte die Stirn und warf dann Oberst Lin, der ein paar Meter entfernt stand, einen durchdringenden Blick zu, als fordere er ihn zum Eingreifen auf. Lin machte nur einen einzigen Schritt auf den Professor zu, so daß Khodrak allein blieb und kurzzeitig verblüfft wirkte. Er schien seine Weißhemden herbeiwinken zu wollen, doch Ma kam ihm zuvor.
»Vor hundert Jahren haben Tibeter hier eine schreckliche Untat verübt«, sagte der Professor laut und wies mit ausholender Geste auf die Grabungsstelle.
»Nicht die Tibeter«, warf Lin gereizt ein und wollte anscheinend noch mehr sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Hilfesuchend schaute er zu Shan. Khodrak kam wieder näher. Er schien seine Wut nicht im Zaum halten zu können, nicht einmal im Angesicht derer, die gekommen waren, um ihn zu feiern. Oder es gab eine andere Erklärung, dachte Shan. Vielleicht hielt Khodrak sich bereits für dermaßen sicher und unangreifbar, daß er den Ehrengästen seine neue Macht eindrucksvoll demonstrieren wollte.
»Dieser alte Tibeter ist ein Verbrecher!« rief der Vorsitzende von Norbu gompa dem Oberst zu. Er deutete anklagend auf Jokar und wiederholte die Worte in Richtung der Funktionäre, die auf der Plattform saßen.
Shan stellte sich neben Lepka und Ma vor Jokar, was Khodrak mit einem Hohnlächeln quittierte. »Ein leitender Verbrecher des Dalai-Kults«, fuhr er mit lauter Stimme fort, »umgeben von seinen Handlangern! Sie schüren den Rückschritt!«
Ungeduldig sah er zu Lin und dessen Männern sowie kurz zu den Funktionären. Dann richtete er sich kerzengerade auf, strich seine Robe glatt und wandte sich mit dem Stab in der Hand zur Plattform um.
»Man wird noch lange vom heutigen Tag sprechen«, rief er, »denn heute wird das neue China mit der Macht des wirtschaftlichen Fortschritts und Wohlstands die letzten üblen Subjekte dieser Region aus ihren Löchern jagen!«
Der Vorsitzende von Norbu hatte offenbar eine Rede einstudiert und beschlossen, dies sei der geeignete Zeitpunkt, sie zu halten. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Jokar frei herumlaufen würde, und wollte nun sicherstellen, daß alle Welt seinen Anspruch auf den alten Lama zur Kenntnis nahm. Wenn es nach Khodrak ging, würde der Tag sich nicht um die Ölquelle, sondern um seine persönlichen Triumphe drehen.
»Für das Tal und den Bezirk ist der Tag der Abrechnung gekommen, für Norbu und das Büro für Religiöse Angelegenheiten ein Tag von geschichtlicher Bedeutung.«
Er wies auf die lange Kolonne, die mit vorgehaltenen Waffen durch das Tal herangeführt wurde, dann auf Jokar. »Heute löschen wir die kriminellen Elemente aus, die
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