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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verletzt.«
    Der Zettel war ein Fax der amerikanischen Botschaft in Peking an die Manager sämtlicher Lager des Ölprojekts. Es enthielt eine Personenbeschreibung Winslows und die Bitte, sofort seinen Aufenthaltsort zu melden. Winslow habe den Kontakt zur Botschaft abgebrochen, die chinesische Regierung beschuldige ihn krimineller Verhaltensweisen, und sein Status als Diplomat sei aufgehoben worden. Er solle unbedingt die Botschaft benachrichtigen, sich danach der öffentlichen Sicherheit stellen und ihnen seinen Paß aushändigen.
    Shan las das Schreiben zweimal. Die Botschaft schien nichts mehr mit Winslow zu tun haben zu wollen. Ohne den Schutz seiner diplomatischen Immunität würden die Kriecher ihn vor Gericht stellen können. Shan hob den Kopf und wollte Winslow das Fax zurückgeben, doch der Amerikaner hatte anscheinend das Interesse daran verloren, denn er kniete nun neben Jokar und hielt den Eimer des Lama.
    Noch immer konnte Shan nicht begreifen, was vor sich ging. Alle hier schienen Dinge zu sehen, die ihm verborgen blieben, alle außer Lhandro, der immer wieder verharrte und die anderen mit der gleichen Verwirrung musterte, die auch Shan empfand.
    Es ergab keinen Sinn. War Jokar in dieses Tal gekommen, um zu graben? Hatte er sich deswegen freiwillig den Soldaten ausgeliefert? Er war nach Yapchi zurückgekehrt, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Jokar und Lepka waren gemeinsam hergekommen, um das Tal zu heilen, unmittelbar bevor der Bohrturm auf Öl stoßen sollte. Soeben waren die Funktionäre eingetroffen, um der Feier beizuwohnen, die das Ende des Tals besiegeln würde.
    Shan ging erneut zu Professor Ma. »Wo ist denn plötzlich Ihre Assistentin geblieben?«
    »Sie ist im Büro und schließt den Bericht ab«, sagte Ma und nickte in Richtung der Wohnanhänger. Als ob das, was der Lama hier tat oder fand, nicht in den Bericht gehörte, dachte Shan.
    »Demnach haben Sie nichts entdeckt, das wichtig genug wäre, um das Projekt aufzuhalten?« fragte er zaghaft.
    Ma sah ihn an, als habe er sich einen Scherz erlaubt. »Sie meinen, ob ich das Missing link zur Erklärung der Evolution gefunden habe? Oder das Grab eines chinesischen Kaisers?«
    Er lachte auf. »Nein.«
    Sein Blick richtete sich auf die Grabungsstelle. »Hier gibt es nichts wirklich Altes.«
    Er schaute zu der kleinen Kiste, in der er die Bronzescherbe mit den chinesischen und tibetischen Schriftzeichen verwahrte.
    Aus einem Lautsprecher im Lager erschallte eine martialische Hymne: Der Osten ist rot. Eine Fahrzeugkolonne fuhr ins Lager hinab.
    Lhandro gab unvermittelt einen Laut von sich und rief nach dem Professor. Ma schien zu zögern und sah statt dessen seltsam flehentlich Shan an. Lhandro rief noch einmal. Er schob mit der bloßen Hand etwas Erde beiseite und legte einen zylindrischen Gegenstand von etwa dreißig Zentimetern Länge frei.
    »Ein Stück Wasserleitung«, mutmaßte Lhandro. »Manchmal wurde dafür Bambus benutzt.«
    Es war tatsächlich Bambus, erkannte Shan, als er sich neben den rongpa kniete, ein robustes Stück von mehr als fünf Zentimetern Durchmesser. Shan wollte einen Finger hineinstecken, zog die Hand jedoch unvermittelt zurück und sah zu Ma, der den Blick ruhig erwiderte. Lhandro hob den Fund an. Es war kein Rohrstück, sondern an beiden Seiten geschlossen, und als er es schüttelte, ertönte ein Rasseln. Shan schaute von Ma zu Jokar, der ernst nickte, als wolle er Shans Verdacht bestätigen. Lhandro entgingen die Blicke der beiden nicht. Fragend sah er von einem zum anderen und wandte sich schließlich zu seinem Vater um.
    »Er ist ein guter Mann, dieser Professor«, sagte Lepka. »Wir haben ihm einiges von dem erzählt, was dir und Shan passiert ist.«
    Erwartungsvoll brachte Lhandro den Zylinder zu Ma, doch der Professor legte den Gegenstand einfach nur kommentarlos zu den anderen Fundstücken auf die Bank. Shan stand auf, ging zu der Holzkiste hinter dem Professor und öffnete sie. Darin lag neben dem Filz, in den die Bronzescherbe gewickelt war, ein weiteres Stück Tuch. Shan hob es an. Es bedeckte einen menschlichen Schädel, in dessen Schläfe ein gezacktes Loch gähnte.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Winslow hinter ihm. Shan hob den Kopf und folgte dem Blick des Amerikaners zu Lhandros Vater, der sich erhob, am Rand der Grabungsstelle Platz nahm und sich langsam vor und zurück wiegte. Winslow nahm den Bambusbehälter und schüttelte ihn, während Shan ein weiteres Mal das Stück Bronze betrachtete

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