Das tibetische Orakel
Im Schatten unter den Bäumen schien sich etwas zu bewegen.
»Wir müssen die gefangene Gottheit befreien«, erklärte Gyalo feierlich und sah Shan strahlend an. »Es heißt, du seist derjenige, der es herausgefunden und das Rätsel gelöst hat.«
Ohne ein weiteres Wort machte er sich wieder auf den Weg und wies Jampa nach einigen Schritten auf einen Vogel hin.
Shan starrte den beiden verwirrt hinterher. Er hatte überhaupt nichts gelöst, doch es blieb ihm keine Zeit, sich Gedanken über diese seltsame Behauptung zu machen. Wenigstens würden die Leute einigermaßen in Sicherheit sein, sofern sie auf den oberen Hängen blieben. Den Soldaten war es hoffentlich egal, daß die entwurzelten Tibeter ihre Zeit damit verbringen wollten, irgendwelche Felsbrocken auszugraben. In den Ruinen des Dorfes war kaum etwas los, abgesehen von einem kleinen Arbeitstrupp, der die verkohlten Balken der Häuser auseinanderriß und zu einem großen Haufen aufstapelte. Die Schafe, die gemeinsam mit Shan vom Lamtso hergekommen waren, standen in einem kleinen Pferch und beäugten einen ihrer Artgenossen, der gehäutet und ausgeweidet kopfüber an einem Holzgerüst hing. Sie dienten den Ölarbeitern als Schlachtvieh.
Während Shan dem Pfad zum Bohrturm folgte, erklang erneut eine Stimme in seinem Kopf. Du und die Yapchi- Gottheit werden das Land für uns wieder erneuern, du wirst dafür sorgen, daß die Chinesen weggehen, hatte Nyma am Lamtso zu ihm gesagt. Das Gefühl, das in Shan aufbrandete, war dermaßen stark, daß er abermals innehalten mußte. Ihm stockte der Atem, und er setzte sich. Anya war tot, das Dorf Yapchi zerstört. Lokesh war gefoltert worden und brach verkrüppelt nach Peking auf. Der alte Lama saß in Haft. Drakte hatte sterben müssen. Lin, der allein die Macht besaß, die Soldaten abzuziehen, hatte sich nicht geändert, sondern war lediglich ausgehöhlt worden, so daß von ihm nur die verbitterte Hülle blieb. Die Tibeter wollten immer noch Widerstand leisten und würden unterliegen, was weitere Tote oder Gefangene bedeutete. Soldaten waren ums Leben gekommen. Das Tal wurde langsam zerstört. Trotz allem würde Öl fließen. Keinen Moment lang hatten sie auch nur das geringste daran ändern können. Es hatte nie einen Zweifel gegeben, daß die Ölfirma gewinnen und die Gottheit auf ewig blind bleiben würde.
Als Shan an dem Bohrturm vorbeikam, ertrug er es nicht, ihn anzusehen. Das Ding war wie ein kaltes Metallungeheuer, das drohend neben ihm aufragte. Arbeiter krochen darauf herum. Das Schwirren, Hämmern und Ächzen war so laut, als würde die Maschine tatsächlich gegen die Erde kämpfen.
Kurz vor dem Lager hatte man aus den Baumstämmen des Hangs eine Plattform errichtet, an der ein frisch gemaltes Banner hing, das in leuchtendroten Buchstaben Klarheit und Wohlstand verkündete. Hinter dem Podest stellten einige Arbeiter mit roten Farbtöpfen soeben ein weiteres Banner fertig, dessen Oberkante an einem langen Seil befestigt war. Ein Sieg für das Tal von Lujun , las Shan. Unter den Schriftzeichen hatte man kleine Bohrtürme aufgemalt, die an die religiösen Symbole erinnerten, von denen manche thangkas gesäumt wurden. Auf der Plattform waren Stühle und Bänke für ungefähr zwanzig Personen aufgestellt worden, und auf den Stufen stand Jenkins und leitete die Arbeiter an. Als ein Geländewagen und zwei schwarze Limousinen ins Lager einbogen, verstummte der Manager. Die Ehrengäste waren eingetroffen. Shan schaute verwirrt zu den nördlichen Hängen und fragte sich aufs neue, weshalb Melissa Larkin ihre Leute dorthin mitgenommen hatte und nicht etwa zur Straße, um die Fahrzeuge durch einen Felsrutsch aufzuhalten, oder zu den wütenden Tibetern, die sich auf dem Berg versammelten und darauf warteten, daß der Lama sie anführen würde.
Von Winslow oder Somo war keine Spur zu entdecken. Vielleicht saß der Amerikaner mal wieder in Jenkins' Büro, um irgendeine Frage zu erörtern. Alles sah normal aus. Im hinteren Teil des Lagers standen weiterhin die Armeezelte, bei denen mittlerweile reger Betrieb herrschte. Überall liefen Soldaten ein und aus und riefen wild durcheinander. Ihr vermißter Oberst war wieder da. Sogar Professor Ma setzte seine Grabungen fort und arbeitete mit inzwischen weitaus mehr Helfern gegen den Ablauf der Frist an, wenngleich ein finsterer Posten mit einem langen Stab die Leute überwachte.
Doch als Shan die Grabungsstelle in einiger Entfernung passieren wollte, blieb er jäh stehen. Die
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