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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gestalt bei Professor Ma war kein Soldat, sondern der dobdob. Shan nahm ein weiteres Mal die Armeezelte in Augenschein. Niemand schien Dzopa bemerkt zu haben. Zögernd näherte Shan sich der Ausgrabung und erkannte unterdessen die einzelnen Arbeiter. Lhandro war dort, desgleichen sein Vater und Jokar, alle auf Knien und ernsthaft damit beschäftigt, das Quadrat aus Erde umzugraben, das sich deutlich vergrößert hatte. Dzopa stand kerzengerade da und hielt den Stab. Zu seinen Füßen lag ein Haufen Decken, und ein kurzes Stück hinter ihm sah Shan seinen Rucksack und Jokars Stab.
    Professor Ma und seine Assistentin saßen beide mit Erdsieben am Rand der Fläche und verhielten sich, als habe nichts die Routine gestört. Die anderen brachten abwechselnd die vollen Eimer; auf einer Bank lagen zahlreiche Fundstücke. Wieso konnte Jokar sich derart frei bewegen? fragte Shan sich und erkannte dann entsetzt, daß vor dem dobdob keine Decken lagen, sondern ein regloser Soldat. Von Dzopa aus waren es höchstens fünfzehn Meter bis zu einem großen Felsvorsprung am unteren Ende des Hangs. Er mußte den Vorsprung umgangen und sich dem Posten von hinten genähert haben. Anscheinend hatte der dobdob einfach die Funktion des Wächters übernommen, denn weder er noch Jokar schienen fliehen zu wollen. Es war kaum zu glauben, aber bei all der Hektik im Lager hatte offenbar niemand Dzopa bemerkt oder den Soldaten vermißt.
    Shan nahm eine der Kellen, die am Rand der Grabungsstelle lagen, und gesellte sich zu Lepka, um gemeinsam mit ihm den Eimer zu füllen. Der alte Mann begrüßte ihn mit einem beiläufigen Nicken, als habe er ihn erwartet, und arbeitete weiter. Shan musterte Lepkas Gesicht und sah dort keine Angst oder Erschöpfung, sondern einen tiefen seelischen Schmerz.
    Als Shan den Eimer in das Sieb des Professors ausschüttete, warf der alte Han ihm einen beunruhigten Blick zu. Hinter ihm auf der Bank lagen neue Artefakte. »Sie sollten doch eigentlich gar nicht mehr hier sein«, stellte Shan fest.
    Der Professor wirkte erstaunt. »Ich war dabei, meine Sachen zu packen, als dieser alte Lama kam und zu graben anfing. Ich habe ihn nicht davon abgehalten, und nach einer Stunde hat er mich zu sich gewinkt. Er sagte, ich solle mich nicht so beeilen, denn meine Seele sei im Ungleichgewicht, und ich müsse auf meinen Herzwind achtgeben.«
    Ma lächelte verwirrt. »Also habe ich aufgehört zu packen.«
    Shan brachte den leeren Eimer zurück und hockte sich vor die Bank. Dort lagen eine kleine Bronzeschale zum Verbrennen von Weihrauchkegeln, metallene Pfeilspitzen und die Fragmente einer Jadestatue. Bei einem davon schien es sich seltsamerweise um das Bein eines Huftiers zu handeln, und zwar nicht das eines Pferdes, denn der Huf war gespalten. Vielleicht ein Yak oder eine Kuh.
    Shan schaute zurück zu dem alten Lama und hörte Dzopa aufstöhnen. Jokars heiteres Gesicht schien abermals jeglichen Ausdruck zu verlieren, so wie während jener schrecklichen Stunde in der Einsiedelei, und seine Schultern sackten herunter. Der dobdob ging zu ihm, nahm langsam und ehrfürchtig eine Hand des Lama, legte sie sich vor den Mund und blies kräftig hinein. Jokars Lider öffneten sich zitternd, sein Blick suchte kurz nach einem Halt, und dann war der Lama wieder bei Bewußtsein. »Diese Reise war ziemlich anstrengend, nicht wahr, mein alter Freund? Ich werde bald sehr lange schlafen«, sagte er mit entschuldigendem Lächeln zu Dzopa und setzte die Arbeit fort.
    Wenig später hielt der Lama inne und starrte seine Hand an. Dann tat er etwas, das Shan aus irgendeinem Grund einen Schauer über den Rücken jagte: Er berührte seine Finger mit der anderen Hand und strich überrascht darüber, als habe er noch nie eine Hand gesehen. Einen lebenden Buddha hatte Nyma ihn genannt, einen Bodhisattva. Mitten in Chaos und Angst nahm er sich die Zeit, um. was? Das Wunder des menschlichen Körpers zu bestaunen?
    Als der dobdob zum Rand der Grabungsstelle zurückkehrte, sah Shan eine neue Gestalt neben der Bank stehen. Winslow. Der Amerikaner wirkte nervös und hielt ein Stück Papier in der Hand. Als Shan auf ihn zukam, ließ Winslow das Blatt sinken, als wolle er es am liebsten verstecken. Shan nahm es ihm mit sanfter Gewalt ab.
    »Dieser Arzt hat meine Karte gefunden. Sie ist mir neulich in Norbu tatsächlich aus der Hemdtasche gefallen«, flüsterte Winslow langsam und sah dabei den Lama an. »Ich schätze, er fühlte sich durch mich in seiner Würde

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