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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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in den blauen Hemden applaudierten Jenkins, ein Armeelaster raste vorbei, und am fernen südlichen Ende des Tals bemerkte Shan eine Patrouille.
    »Es geht ihr gut, Winslow«, sagte auf einmal eine tiefe Stimme. Jenkins war zur Grabungsstelle gelaufen und sah Winslow entschuldigend an. »Ich dachte, es würde Sie interessieren. Die Soldaten sagen, Larkin sei mit einem Haufen Tibetern da oben unter den Bäumen und grabe nach irgendwas. Man bringt sie jetzt her.«
    Der Manager musterte Winslow, schüttelte den Kopf und seufzte. »Das mit dem Fax tut mir leid. Falls es hilft, lege ich gern ein gutes Wort für Sie ein. Sie wollten nur helfen, das weiß ich.«
    Winslow reagierte nicht, sondern starrte nur zum anderen Ende des Tals. Jenkins zuckte die Achseln und schritt zur Plattform zurück.
    In einem entlegenen Winkel von Shans Verstand meldete sich eine spöttische Stimme. Zehn Monate Freiheit. Vier Jahre im Gulag und dann zehn Monate in Freiheit. Viele purbas lebten so und konnten zwischen ihren langen /ao-gai-Strafen immer nur kurz für ihre Sache arbeiten.
    Doch es gab noch eine zweite Stimme, die aus ebenso großer Ferne durch einen langen dunklen Korridor zu erklingen schien. Der Götterfelsen. Eine noch so kleine Ablenkung würde einigen der Tibeter vielleicht die Flucht ermöglichen. Falls Jokar und Tenzin davonkamen, würde Shan jedes künftige Leid ertragen können. Langsam und unauffällig näherte er sich den Arbeitern, die das Banner fertigstellten. Zunächst war ihm gar nicht bewußt, was er tat, und so fand er sich unversehens neben den roten Farbeimern wieder, bückte sich und nahm einen. Als er den Kopf hob, stand Somo nur anderthalb Meter von ihm entfernt und schaute verzweifelt zu der Kolonne der Gefangenen, die soeben die Ruinen des Dorfs erreichte. Shan trat zu ihr und reichte ihr den Farbtopf. Verwirrt nahm Somo ihn entgegen. Sie sahen einander kurz an - auf jene traurige, stolze Weise, wie es Soldaten tun mochten, denen ein Himmelfahrtskommando bevorstand.
    Shan lächelte matt. »Können Sie laufen?« fragte er.
    Somo stutzte, doch dann schienen ihre Augen aufzuleuchten. Sie sah den Farbeimer an und lächelte zurück. Leise erläuterte Shan ihr seinen Plan, und kurz darauf verschwand sie in der Menge, während er zur Grabungsstelle zurückkehrte.
    Im selben Moment plärrte erneut die Hymne aus den Lautsprechern, und die Ehrengäste erhoben sich, um unter vereinzeltem Beifall die letzte Besuchergruppe willkommen zu heißen, die vom Lager zur Plattform marschierte. Shans Kehle schnürte sich zusammen, denn er sah Khodrak, Padme und Tuan in Begleitung eines Trupps Weißhemden. Die drei Männer schüttelten zahlreiche Hände. Dies war ihr Tag. Khodrak schritt mit seinem Bettelmönchstab gemessen einher, und Padme, der einen Schritt hinter ihm folgte, trug die schwarze Ledertasche, die Shan im Besprechungszimmer von Norbu gesehen hatte.
    Professor Ma ging auf die Delegation zu, begrüßte sie freundlich, sprach zuerst mit Padme und dann mit Khodrak, der fröhlich auf den älteren Han einzugehen schien.
    Lhandro erwachte als erster aus der allgemeinen Starre. »Es ist gefährlich für den Professor«, raunte er Shan zu. »Er weiß nicht, was für eine Art Mönch dieser Khodrak ist.«
    »Er vermutet hier etwas von Bedeutung«, sagte eine sanfte besorgte Stimme an Shans Schulter. Es war Mas Assistentin, die junge Studentin, die den Bericht offenbar abgeschlossen hatte, denn sie hielt einen großen braunen Umschlag in der Hand. »Er muß gehen. Ich versuche schon die ganze Zeit, ihn zum Aufbruch zu überreden. Wissen Sie, er sollte mal Rektor der gesamten Universität werden und war bei seinen Studenten so beliebt, daß sie ihn gebeten haben, abends inoffizielle Zusatzseminare abzuhalten.«
    Sie sprach schnell, als habe sie schon länger vorgehabt, Shan und seinen Freunden davon zu erzählen. »Vor fünf Jahren stand seine Ernennung zum Rektor kurz bevor, aber dann hat jemand aus Peking seinen Unterricht besucht und festgestellt, daß er sich nicht an die verordnete Geschichtsschreibung hielt.«
    Sie verstummte und schaute zu einer Gruppe Offiziere, die das Zeltlager verließ, darunter auch Lin in einer sauberen Uniform. »Der Professor hat gelacht und gesagt, daß die Geschichte ein schillernder Wandteppich sei und das Geschichtsbuch der Partei sie wie einen alten grauen Fetzen aussehen lasse. Seine Studenten haben auch gelacht und applaudiert. Der Besucher hat nicht gelacht. Ein anderer Professor wurde

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