Das tibetische Orakel
China geschickt. Für die Zeit nach seiner Rückkehr versprach man ihm sogar eine lukrative Anstellung beim Büro für Religiöse Angelegenheiten. Eines Tages brachte man ihm ein Mönchsgewand und teilte ihm mit, er würde der Politoffizier eines bedeutenden gompa werden. Vieles an diesem gompa gefiel ihm, und als man ihn nach fünf Jahren in ein anderes Kloster versetzen wollte, bat er darum, seine Mönchsausbildung an ursprünglicher Stelle fortsetzen zu dürfen.
Dieser Mönch war ich. Ich unterschied mich mittlerweile deutlich von dem Politoffizier, der einst in jenes gompa gekommen war, blieb aber dennoch ein Günstling der Regierung, die dafür sorgte, daß ich so jung zum Abt ernannt wurde wie noch nie jemand zuvor in Tibet. Ich machte aus diesem Kloster ein Paradebeispiel des gleichgeschalteten Buddhismus und führte dem Land vor, wie der Sozialismus sich förderlich auf den Buddhismus auswirken konnte. Ich bemühte mich, Buddha zu umarmen, aber zunächst habe ich viele Jahre lang die chinesische Regierung als meinen Gönner umarmt. Als man mich bat, gegen den Widerstand zu predigen, tat ich es aus Leibeskräften, denn die Regierung war der größte Wohltäter Tibets. Als man eine Kampagne starten wollte, um Glaubensangelegenheiten einen wirtschaftlichen Schwerpunkt zu verleihen, schlug ich vor, man solle sie Klarheitskampagne nennen, und hielt in meinem gompa die offizielle Eröffnungsrede.
Dann sah ich eines Tages einen alten Mann, der die Wand einer Kapelle anstreichen sollte, und kritisierte ihn, weil er so langsam arbeitete. Er lächelte und sagte, er würde bereits sein Bestes geben. Dann hat er mir seine Hände gezeigt; sie waren ohne Daumen. Früher sei er ein Lama gewesen, erzählte er, doch die chinesischen Soldaten hätten ihm mit einer Baumschere die Daumen abgeschnitten, um ihn am Beten seiner Rosenkränze zu hindern. An jenem Tag haben wir uns mehrere Stunden unterhalten, und am nächsten Tag brachte er eine junge Frau mit, die mir von ihrem Bruder erzählte, der ins Gefängnis gesteckt worden sei, weil er ein Foto des Dalai Lama besessen habe. Am folgenden Tag brachte die Frau einen Mann zu mir, den sie als purba bezeichnete.«
Der Bericht ging noch mehrere Seiten weiter und enthielt zahlreiche Erinnerungen und Bekenntnisse: Tenzin war dafür verantwortlich, daß ehrwürdige Lehrer zur politischen Umerziehung nach Peking geschickt wurden, weil sie sich positiv über die Exilregierung geäußert hatten. Er hatte den Behörden geholfen, neue Landkarten anzufertigen, in denen sämtliche Verweise auf Pilgerstätten fehlten. Dann schilderte er sogar, wie zwei alte Lamas namens Gendun und Shopo ihn gelehrt hatten, daß Mitgefühl aus Sand geformt werden konnte, und wie sie ihm einen Neuanfang ermöglichten, indem sie ihm beibrachten, Yakdung schätzen zu lernen.
»Ich habe mich gegen mein Volk und meine Seele versündigt«, setzte der letzte Absatz ein. »Meine Regierung hat mich belogen, und ich habe meine innere Gottheit belogen. Ich habe einen großen Teil meiner menschlichen Inkarnation darauf verwandt, andere ins Unglück zu stürzen. Wenn ihr von den Feinden Tibets sprecht, sprecht über den Abt von Sangchi. Wenn ihr von niederen Kreaturen sprecht, die versuchen, sich durch die Dunkelheit zum Licht vorzugraben, sprecht über einen Pilger namens Tenzin.«
Shan starrte noch lange auf diese letzten Worte, bevor er den Band zuklappte. Als er schließlich aufstand, legte er das Buch neben dem Buddha ab, so daß alle Lamas von Rapjung es sehen konnten. »Ich glaube, der Tag ist angebrochen«, sagte er leise.
Tenzin, der wieder ausgemergelt und leer wirkte, folgte ihm die Reihe der alten Männer entlang und bezeugte jedem von ihnen durch ein Gebet seine Ehrerbietung. Dann verließen Shan und Tenzin die Kammer, und Jokar blieb in seinem geliebten Berg zurück, endlich zur Ruhe gebettet auf dem Stuhl des Siddhi.
Kapitel 20
Als Shan und Tenzin drei Stunden nach Sonnenaufgang den Berggrat oberhalb des Tals von Yapchi erreichten, blieben sie überrascht stehen. Das Tal hatte sich verwandelt. Von Jenkins' Damm war nichts mehr zu sehen, und über den langen steilen Hang floß immer noch Wasser nach. Es hatte dort den Erdboden bis hinunter zum Fels weggespült und sich ein neues Flußbett geschaffen. Der kleine Tümpel rund um den Bohrturm war zu einem riesigen See von etwa anderthalb Kilometern Länge geworden.
Shan beugte sich vor und stützte sich dabei auf den Stab in seiner Hand, Jokars Stab. Er
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