Das tibetische Orakel
sprach sein Vater mit Jokar, und die beiden Männer standen wie zwei alte Freunde am anderen Ende der Kammer. Sie winkten Shan zu und traten in die Schwärze, die dahinter lag.
Als Shan sich seiner Umgebung wieder bewußt wurde, hielt Tenzin ein Blatt Papier in der Hand. Es war eine lange Namenliste.
Irgend etwas ließ Shan zu dem Stoffbündel gehen, es aufheben und Tenzin entgegenstrecken. »Du hast Drakte darum gebeten, ihre Namen eintragen zu dürfen«, sagte er und wickelte das Bündel aus. Es war ein schweres, in Leder gebundenes Buch, dessen Umschlag jemand mit dem Bild einer Lotusblume versehen hatte.
Tenzin starrte erst das Buch an, dann Shan. Schließlich nahm er den Band feierlich entgegen. »Winslow hat es aus Padmes Tasche gezogen«, erklärte Shan. »Er hat es gegen Draktes Aufzeichnungen ausgetauscht. Es ist das Buch, das Drakte dir mitbringen wollte. Khodrak hat es in jener Nacht an sich genommen.«
Tenzin wog das Buch in beiden Händen und nahm es ein weiteres Mal in Augenschein, bevor er es aufschlug. Langsam blätterte er bis zur ersten leeren Seite vor, die sich ziemlich weit hinten befand. Dann zog er einen Bleistift aus der Tasche und fing an zu schreiben. Er arbeitete fast eine Stunde lang. Zuerst las Shan ihm die Namen der toten Gefangenen vor, damit er sie eintragen konnte; danach schrieb er allein weiter. Hin und wieder blickte er auf und betrachtete die Lamas. Als er fertig war, erhob er sich, legte das Buch auf den Altar und vertiefte sich in den Anblick des kleinen goldenen Buddhas. Am Ende sah er erwartungsvoll Shan an. »Nun steht es geschrieben«, stellte er leise fest.
»Es wäre dumm, sich nachts auf diesen Pfad zu wagen«, sagte Shan langsam und schaute zu dem Buch. Tenzin musterte ihn prüfend, zog drei weitere Kerzen aus der Tasche, legte sie auf den Altar und nahm den Band wieder an sich.
Die beiden Männer ließen sich nebeneinander unter der Kerze und im Angesicht der Lamas nieder, und Tenzin reichte das Buch an Shan weiter.
Das Lotusbuch war von vielen Händen und in mehreren Sprachen verfaßt, mit Bleistift, Tinte und sogar mit Wasserfarben. Shan schlug den ersten der vielen hundert Einträge auf, blickte kurz zu Jokar und räusperte sich.
»Das erste Datum liegt diesen Monat fünfzehn Jahre zurück«, sagte Shan sanft und fing an zu lesen. »Ich war nicht immer eine gebrechliche alte Frau ohne Familie, ohne Haus, ohne Mönch, mit dem ich beten könnte, ohne Kinder, mit denen ich lachen könnte, sogar ohne Hund, der mir wenigstens die Hand lecken würde«, lautete der erste Satz. »Aber dies ist die Geschichte, wie ich dazu wurde, beginnend mit dem Tag, an dem die Chinesen unsere Schafe getötet haben.«
Und so lasen sie, Stunde um Stunde, mit zitternden Stimmen und manchmal unter Tränen, reichten das Buch von einem zum anderen und entzündeten eine neue Kerze, sobald die vorhergehende niedergebrannt war. Klöster wurden von den Roten Garden dem Erdboden gleichgemacht. Mönche starben unter der Folter. Die Einwohner uralter Bergdörfer wurden in dichte Wälder transportiert, um dort Schneisen für den chinesischen Tagebau zu schlagen. Fünfhundert Jahre alte Buddhas wurden für die Armee zu Gewehrkugeln eingeschmolzen. Eltern wurden vor den Augen ihrer Kinder hingerichtet, und Tibeter landeten im Gefängnis, weil sie den Geburtstag des Dalai Lama gefeiert hatten.
Shan verlor jegliches Zeitgefühl. Er mußte das Buch an Tenzin übergeben, als Einträge über die 404. Baubrigade des Volkes - seine lao-gai-Einheit - kamen, und die Namen der vielen Tibeter, die dort ihr Leben gelassen hatten. Es war kaum zu glauben, aber schließlich erreichten sie die letzten Seiten, und Shan erkannte Tenzins Handschrift.
»Auch nach fünf Jahrzehnten hält die Versklavung unseres Landes und Volkes unvermindert an«, lauteten die einleitenden Worte des Eintrags. Es folgte eine Beschreibung der Bergfestung und des Plans zu ihrer Zerstörung, abgeschlossen durch die Namenliste all der Zwangsarbeiter, die dabei ihr Leben geopfert hatten. Die Worte waren stark und leidenschaftlich, wenngleich der letzte Eintrag des Buches sie an Kraft noch übertraf.
»Vor dreißig Jahren ging ein junger Tibeter als Jahrgangsbester von der einzigen Schule seines Bezirks ab, in der gemischte Klassen aus tibetischen und chinesischen Kindern unterrichtet werden durften. Da seine Eltern der Kommunistischen Partei beigetreten waren, beherrschte er die chinesische Sprache und wurde auf eine Universität in
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