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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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purbas behauptet hatten, Jokar solle ihre Rebellion anführen. Er sagte, die purbas würden sich irren, denn Siddhi sei ein Lehrer und Anhänger des Heilenden Buddhas gewesen. Er habe die Leute nicht zum Kampf gegen die Mongolen aufgerufen, sondern Gruppen aus Missionaren gebildet, die bei den Mongolen die Botschaft der Nächstenliebe verbreiten sollten.«
    Er sah zu Shan. »Jokar hätte nie zugelassen, daß in seinem Namen Gewalt ausgeübt wird. Als er sagte, er würde den Stuhl des Siddhi einnehmen, hat er das hier gemeint.«
    Der Stuhl des Siddhi - des Siddhi und seiner Nachfolger. Sie standen direkt davor. Es war ein Ort jener sanften alten Männer, die ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet hatten, die Verbindung zwischen den Menschen und der Erde in ihrem Innern aufrechtzuerhalten.
    Tenzin fiel auf die Knie und beugte sich demütig herab, so daß sein Mund beim Gebet nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebte. Nach ein paar Momenten richtete er sich auf und küßte sanft den Saum des uralten schlichten Gewands. Dann wiederholte er die Prozedur bei jedem einzelnen Toten, bis er gemeinsam mit Shan vor Jokar stand.
    »Die purbas sagten, wir würden einfach nach Norden gehen«, berichtete Tenzin leise und starrte dabei Jokars verschlissene schwarze Leinenschuhe an. »Alles sei geplant, hieß es. Ich sollte über Rußland nach Amerika fliehen, wo die Leute mir ein Haus zur Verfügung stellen und mich bitten würden, manchmal Reden zu halten.«
    Er schien sich vor sich selbst zu ekeln. Eine einzelne Träne lief ihm über das Gesicht. »Das Steinauge war meine Tarnung. Ein Trupp purbas , der sich insgeheim nach Norden stahl, um mich zu eskortieren, wäre irgendwann aufgefallen, aber das Auge und diese ganz gewöhnlichen Tibeter.«
    Tenzin warf ihm einen Blick zu. ». Der Tiger sagte, ich könne auf diese Weise nach Norden reisen, ohne daß jemand Verdacht schöpfen würde. Es war nie meine Absicht, Lin die Akte zu stehlen. Drakte hatte mich dorthin gebracht. Er war während der Konferenz die ganze Zeit bei mir, trug ein Mönchsgewand, hielt mir die Schreihälse vom Leib und achtete darauf, daß ich nicht versehentlich unseren Plan verraten würde. Immer wieder kam dieser Khodrak zu mir und behauptete, er sei der glühendste Anhänger der Klarheitskampagne und würde sie für einen Geniestreich halten. Er muß gewußt haben, daß ich mich in diesem Bezirk aufhielt, denn er hat an jenem Abend Drakte und Chao zusammen gesehen.«
    Tenzin verstummte kurz und sah die Lamas an. »Als Drakte und ich das Auge holen wollten, lag dieser Bericht auf Lins Schreibtisch, und ich habe angefangen, darin zu lesen. Einen Monat zuvor hatte das Büro für Religiöse Angelegenheiten mir eine Rede gegeben, die ich vor einem Jugendkongreß in Lhasa verlesen sollte. Ich habe diesen Jugendlichen versichert, daß kein Tibeter Zwangsarbeit leisten müsse und der Dalai-Kult sich solche Geschichten ausdenke, um den Verstand der Tibeter zu vergiften. Dann lag da plötzlich diese Akte in Lins Büro und bewies das Gegenteil. Ich konnte einfach nicht aufhören zu lesen. Das Auge lag längst im Wischeimer, wir mußten fliehen, und Drakte zerrte an meinem Arm. Damit ich endlich mitkommen würde, sagte er, ich solle die Seiten einstecken. Was ich denn erwartet hätte, hat er gefragt. Schließlich würden die purbas mir die ganze Zeit nichts anderes erzählen.«
    Tenzin sah Shan durchdringend an. »Die haben mich die Kinder anlügen lassen. Ich hatte diese Geschichten über Arbeitslager nie geglaubt, über alte Lamas, die noch immer in Haft saßen, oder Mönche, die lebendig in ihren gompas begraben wurden. Als man mir sagte, ich solle für das Religionsbüro die Leitung von ganz Tibet übernehmen, wußte ich, daß ich gehen mußte, denn man würde nie wieder zulassen, daß ich Abt oder Mönch wurde. Doch sogar dann, als ich den Entschluß schon getroffen hatte, wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß tatsächlich dermaßen viele entsetzliche Dinge.«
    Seine Stimme erstarb. Tenzin richtete den Blick auf Jokar und schien um Verzeihung zu bitten.
    »In dieser Einsiedelei haben wir mit Gendun und Shopo über vieles gesprochen, und es kamen noch weitere purbas. Drakte zeigte mir, daß es sich bei all den Zahlen auf der Rückseite von Lins Bericht um Kennummern handelte, einmal für die Soldaten, einmal für die Häftlinge, hauptsächlich alte Mönche, die seit zwanzig Jahren oder länger gefangen waren. Sie hatten diesen Berg ausgehöhlt und wußten, daß

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