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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hatte nicht vorgehabt, ihn aus der Grabhöhle zu entfernen, doch als er von dem großen thangka zurückgewichen war, hatte seine Hand sich wie von selbst um den Stab gelegt, als besäße dieser einen eigenen Willen. Shan hatte innegehalten und den verwitterten Stab, der dem Lama-Heiler jahrzehntelang gute Dienste geleistet hatte, verunsichert gemustert. Dann hatte er ihn mitgenommen. Jokar und Shan kannten jemanden, der einen Stab gut gebrauchen konnte.
    »Das Tal wird neu geschaffen«, stellte Tenzin zögernd und verblüfft fest.
    Shan setzte sich auf einen Felsen. Das alles kam ihm so unwirklich vor. Keinen Augenblick lang hatte er daran gezweifelt, daß die Armee und die Firma das Wasser aufhalten und das Loch in der Bergflanke wieder verschließen würden. Doch die Schlacht war geschlagen, und der Berg hatte gesiegt. Arbeiter schleppten sich auf das Lager zu und zogen wie unterlegene Krieger ihre Werkzeuge hinter sich her. Unterhalb des Hangs lag ein Bulldozer auf der Seite und ragte halb aus den Fluten. Dort mußte der Damm gebrochen sein. Der Bohrturm stand genau in der Mitte des Sees und neigte sich um fast dreißig Grad, weil das Wasser ihn unterspült hatte.
    Nur noch im Lager schien gearbeitet zu werden. Auf dem eigentlich für die Feier vorgesehenen Feld herrschte ein großes Durcheinander. Die Befestigung des Banners hatte sich an einer Seite gelöst, so daß der Slogan der Klarheitskampagne wie ein Papierdrachen am Himmel flatterte. Seile, Fässer, Eimer und Werkzeuge wurden hektisch auf die Ladeflächen der Lastwagen geworfen. Die Hälfte der Wohnanhänger war nicht mehr da. Shan beobachtete, wie ein großer Schlepper den Motor anwarf und einen der Anhänger vorsichtig auf den Hang zog, der aus dem Tal hinausführte. Die Firma trat den Rückzug an.
    »Sie wollten ein Wunder vollbringen«, flüsterte Tenzin ehrfürchtig. »Genau das hat Lokesh in der Höhle gesagt.«
    Shan betrachtete das Tal. Es wurde tatsächlich neu geschaffen. Sobald der See das Nordende des Lagers erreichte, würde die Straße zu seiner Abflußrinne werden und sich in einen Fluß verwandeln, so daß kein Lastwagen, Panzer oder sonstiges Fahrzeug mehr hierhin vordringen konnte. Am Südende würde das Wasser bis auf wenige hundert Meter an die Dorfruinen heranreichen. Der Grabhügel war bereits zu einer kleinen Insel geworden. Wenn der Pegel weiterhin so schnell stieg, würde er den Hügel in wenigen Stunden bedecken und die Grabungsstelle erreichen, an der einst der taoistische Tempel gestanden hatte. Die seit hundert Jahren offene Wunde würde endlich geschlossen. Verbindet sie, ihr müßt es waschen, um sie zu verbinden , hatte das Orakel durch den Mund ihrer geliebten Anya gesagt.
    Shan bemerkte, daß Tenzin sich gesetzt hatte und mit geneigtem Kopf, halboffenem Mund und verwundertem Blick dasaß. Weiter unten am Hang waren auf einem Felsvorsprung, von dem aus man das Öllager überblicken konnte, andere Leute versammelt, denen es ebenso zu ergehen schien. Shan erkannte Jenkins, außerdem Larkin und ein paar Männer, die wie Manager des Projekts aussahen, darunter zwei Anzugträger aus der Besuchergruppe. Auch einige Tibeter traten langsam auf den Vorsprung und starrten alle mit dem gleichen verwirrten Gesichtsausdruck zum Lager.
    Als Melissa Larkin ihn sah, stand sie auf und kam mit unsicheren Schritten auf ihn zu. Shan setzte sich und wartete auf sie.
    »Es heißt, Sie hätten nach Winslow und Jokar gesucht«, sagte Larkin. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Cowboy hatte vorgestern abend so einen merkwürdigen Schimmer in den Augen. Als würde etwas ihn auseinanderreißen oder fortziehen.«
    »Ich habe ihn gefunden«, sagte Shan leise. »Die Tabletten sind ihm ausgegangen. Er wird nicht zurückkommen. Es gab einen Ort, an den er Jokar begleiten mußte.«
    Aus irgendeinem Grund begriff Larkin sofort, was er meinte. Kraftlos ließ sie sich neben Shan zu Boden sinken. Dann hob sie die Faust an den Mund und biß sich auf den Knöchel. Ihr standen Tränen in den Augen. Sie vergrub das Gesicht in der Armbeuge und stützte den Kopf auf die Knie.
    »Er wollte, daß Sie es erfahren, nur Sie allein«, sagte Shan, als sie schließlich wieder aufblickte.
    Larkin lächelte unter Tränen. »Als ich das erstemal von ihm hörte, dachte ich, er sei bloß irgendein bescheuerter Bürokrat. Als wir uns dann trafen, war es.«
    Ihre Stimme erstarb, und sie schaute auf den See hinaus.
    »Es gab eine Verbindung zwischen uns. Neulich auf dem Mischsims sagte

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