Das tibetische Orakel
sie darin sterben würden.«
Tenzin schaute die Reihe der Lamas entlang und senkte beschämt den Kopf.
Letzten Endes, so wußte Shan, ging es nicht nur darum, daß der Abt von Sangchi gegenüber den chinesischen Greueltaten blind gewesen war. Viel schwerer wog, daß ihm der stille, aber unerschütterliche Glaube und Mut von Männern wie Lokesh, Gendun und Jokar gefehlt hatte, die das Innere eines Berges wegmeißeln würden, obwohl sie von vornherein wußten, daß es ihren Tod bedeutete.
»Als Drakte mir von dem Lotusbuch erzählte, habe ich gefragt, ob es möglich wäre, die Namen dieser mutigen Tibeter aus dem Berg zu erfahren. Eine Woche später hatte er sie herausgefunden.«
Tenzin seufzte laut. »Ich habe ihn gebeten, mir eines der Lotusbücher zu besorgen, damit ich die Namen dieser Leute dort eintragen und mit meiner Unterschrift bezeugen könnte.«
Er starrte auf seine Hände. »Ich wollte mir etwas beweisen, wollte der Welt verkünden, daß ich mit all jenen, die andere versklavten, endgültig fertig sei. Es ging nur um meinen Stolz. Ich bin schuld an Draktes Tod. Seit jener Nacht in der Einsiedelei sehe ich ihn in meinen Alpträumen. Manchmal, wenn ich meditiere, erscheint mir sein Gesicht. Ich war sein Leben niemals wert.«
»Drakte ist nicht für dich gestorben, sondern für die Wahrheit.«
»Das Streben nach Wahrheit sollte eine Angelegenheit des Geistes, nicht des Fleisches sein«, sagte Tenzin mit schwerer Stimme.
Die Worte schienen in der Höhle widerzuhallen. Im trüben Flackerlicht kam es Shan so vor, als würden einige der längst toten Lamas aufseufzen.
»Ich kann mich noch an Draktes letzte Worte erinnern. Er tötet, wofür er steht, hat er über den Mörder gesagt. Dieser Mönch, der sich selbst einen Vorsitzenden nennt«, sagte Tenzin, als wolle er Khodraks Namen nicht aussprechen und als könne er immer noch nicht begreifen, was in Amdo geschehen war, »hat alles zerstört, was ein Abt eigentlich sein sollte. Und dann hat er an diesem Abend die beiden Männer ermordet. Wegen Draktes Aufzeichnungen.«
»Ich glaube nicht, daß Drakte nur hingegangen ist, um Chao seine Aufzeichnungen zu geben. Ich weiß noch, was Gendun mal zu ihm gesagt hat: Wenn du die Schreihälse wirklich ändern willst, lies ihnen einfach aus dem Lotusbuch vor. Ich schätze, er wollte den Vorschlag in die Tat umsetzen und erst danach das Buch zu dir bringen. Ich bin überzeugt, er wollte lernen, die Waffen niederzulegen und die Hand nach der inneren Gottheit auszustrecken.«
»Wie meinst du das?«
»Somo hat mir von Gendun eine Nachricht über Drakte mitgebracht. Sie hielt sie für unerheblich, ganz im Gegensatz zu Gendun, und ich weiß nun, daß er recht hatte. Er schrieb, Drakte habe die Gottheit in einer Decke getragen und gelernt, sie auszuwickeln. Somo dachte, es würde sich auf das Steinauge beziehen, aber in Wahrheit meinte Gendun, daß Drakte sich bemühte, dem Weg des Mitgefühls zu folgen. Er öffnete sich seinem inneren Gott und beschloß, mit Chao auf eine Weise umzugehen, die typisch für jemanden wie Gendun, aber nicht typisch für einen purba war.«
Die Stille in dem Höhlengrab gemahnte an die Tiefe des Nachthimmels.
Ein Bild stieg vor Shans innerem Auge auf: Drakte saß nachts mit dem Beamten des Religionsbüros zusammen, erzählte vom Leid der Tibeter und versuchte, den anderen zur Nächstenliebe zu bekehren. Wie die Missionare, die Siddhi einst gegen den Feind ausgesandt hatte. Doch die Szene machte sich selbständig und zeigte Shan, was er lieber gemieden hätte, denn im Herzen wußte er inzwischen, was in der Garage geschehen war. Khodrak tauchte auf. Nehmt euch einen Augenblick Zeit, sagte er und ermutigte Chao und Drakte, sich zum Gebet auf dem Boden niederzulassen. Die beiden Tibeter hätten einem Abt niemals den Gehorsam verweigert. Dann ging er um sie herum und schlitzte Chao mit seinem Bettelmönchstab den Rücken auf. Er tötet Gebete, hatte Drakte gesagt.
»Was würdet ihr glauben, wenn ihr sehen könntet, was wir aus der Welt gemacht haben?« fragte Tenzin nach langem Schweigen mit zutiefst verzweifelter Stimme. Er sprach zu den toten Lamas.
Danach brach die Stille erneut wie eine physische Macht über sie ein und hielt sie fest. Shans Verstand klärte sich, und als er vorsichtig zu meditieren versuchte, gelang es ihm zum erstenmal seit den Nächten bei dem Mandala. Zeit verging. Plötzlich stieg Shan beißender Ingwergeruch in die Nase, und er sah seinen Vater neben sich. Dann
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