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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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genannt. Kleiner Lin. Shan warf einen Blick auf die Soldaten. Sie beobachteten reglos, was vor sich ging, manche verängstigt, andere wütend, wiederum andere erstaunt.
    Während die beiden Männer schweigend gruben, schlug Nyma das Tuch von Anyas Gesicht zurück, so daß der Wind mit den schwarzen Haaren des Mädchens spielte. Dann sang Nyma ein leises Lied, so wie Anya immer ihre Götterlieder gesungen hatte, und flocht die langen Strähnen zu einem Zopf. Immer mehr Dorfbewohner kamen hinzu, allerdings keiner mit einer Schaufel. Sie verharrten als Zuschauer nur wenige Schritte entfernt, bis auf einmal Professor Ma am Grab stand. Er hatte den Kasten mit den Relikten bei sich.
    Die Tibeter zögerten kurz und traten dann vor, um ihm zu helfen. Der alte Han stellte die Kiste auf den Boden und holte nacheinander die Knochenstücke heraus, die er bei dem taoistischen Tempel gefunden hatte. Die Dörfler nahmen die Fragmente entgegen und wickelten jedes in ein Stück Stoff, in khatas oder die Kopftücher der Frauen. Dann setzte jeder Dorfbewohner sich mit einem der eingewickelten Knochen nieder und betete ein mani - Mantra, während der Professor zu Lepka ging und von ihm die Schaufel erhielt. Unter den Augen von Lin und Lepka grub er ein paar Minuten und reichte das Werkzeug danach an Shan weiter. Als dieser eine Weile wortlos am Grab gearbeitet hatte und die Schaufel an Lhandro übergeben wollte, stellte er fest, daß mittlerweile eine lange Warteschlange am Grab stand. Es waren Dorfbewohner dabei, junge Männer, die zu der Arbeitsmannschaft gehört haben mußten, Gyalo und Chemi und ganz am Ende die Amerikaner Larkin und Jenkins.
    Sie gruben mehr als eine Stunde. Lin übernahm noch einige Male die Schaufel und stand ansonsten mit bitterer, trostloser Miene da und bewegte ständig eine Hand. Shan sah etwas Grünes zwischen den Fingern aufblitzen. Es war der Stein, den Anya für ihn bei dem chorten gefunden hatte, das tonde für Onkel Lin. Gerade als Shan dachte, das Grab sei nun fertig, winkte Lin seine Männer heran. Die Soldaten hatten die ganze Zeit bei dem Lastwagen ausgeharrt und zugesehen, aber als sie an der Grube eintrafen, war kein weiteres Wort nötig. Ein junger chinesischer Soldat streckte ernst die Hand nach der Schaufel aus und arbeitete zehn Minuten lang. Als er fertig war, liefen ihm Tränen über die Wangen. Eine der Tibeterinnen zog ihn an sich, und er weinte an ihrer Schulter.
    Jeder der Soldaten grub, und als sie fertig waren, stiegen zwei in das Loch, nahmen aus den Händen der Tibeter die Knochenfragmente entgegen und reihten sie ehrfürchtig entlang der Innenwand auf. Danach hielt einer der Männer kurz inne, schrieb vier Namen auf einen Zettel und legte ihn unter einen der Knochen. Die Namen seiner vier toten Kameraden, erklärte er flüsternd. Nyma küßte Anyas Kopf und verhüllte ihn wieder. Lepka und Lhandro reichten die Leiche zu den Soldaten herunter.
    Auch beim Füllen des Grabes wurde die Schaufel reihum weitergegeben und der kleine Hügel danach mit Steinen bedeckt. Man würde später einen ganzen Steinhaufen darüber auftürmen, wußte Shan, und vielleicht eines Tages einen chorten errichten. Schweigend standen sie um das Grab herum, und vereinzelt sprach jemand ein kurzes Gebet oder ein paar Worte im Gedenken der Toten.
    Lin sagte nichts, sondern wandte sich mit leerer entrückter Miene ab und ging weg, nicht ohne zuvor Lhandro wortlos die Papiere zurückzugeben, die er ihm vor einiger Zeit abgenommen hatte. Als Shan sich jedoch umdrehte, sah er den Oberst beim Lastwagen stehen und erwartungsvoll in seine Richtung schauen.
    »Ich habe die ganze letzte Nacht bei Anya in meinem Zelt gesessen«, sagte er, als Shan und Lhandro zu ihm traten. Dann entfaltete er auf der Motorhaube des Transporters ernst eine Militärkarte und wies auf das Tal von Yapchi. Sie sahen die Grenzregion der Provinz vor sich. Ein großer Abschnitt war rot schraffiert worden. »Heute morgen ist ein neuer Befehl ergangen«, sagte Lin müde. »Das Gebiet von hier« - er deutete auf die Kette niedriger Berggrate gleich oberhalb von Norbu -»bis zur nördlichen Provinzgrenze wurde zur toxischen Sperrzone erklärt. Niemand darf es betreten. Nicht die Armee, nicht die Öffentliche Sicherheit. Auf keinen Fall. Nicht mal das Büro für Religiöse Angelegenheiten«, sagte er spöttisch. Seine Stimme gewann an Kraft. Er bemerkte die fragenden Gesichter. »Ich habe dem Oberkommando berichtet, es sei aufgrund des von mir

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