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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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trinken.
    »Nein!«
    Lokesh berührte ihn am Arm. »Zu salzig. Trink aus den Bächen.«
    Shan kostete einen Tropfen, der an seinem Finger hing, und fand Lokeshs Worte bestätigt. Dann ließ er den Blick ein weiteres Mal über die Landschaft schweifen. Der Lamtso war einer von mehreren großen Seen der östlichen Changtang, die keinen Abfluß besaßen, so daß sich in ihnen die ausgewaschenen Salze und anderen Mineralien der umliegenden Berge anreicherten.
    Der golok setzte sich auf einen Felsblock, trank sein chang und sah Nyma und Tenzin dabei zu, wie sie Steine aufschichteten, um vor ihrer Weiterreise den nagas Respekt zu erweisen. »Ein verheißungsvoller Anfang«, stellte Nyma bei der Arbeit fest und hielt dann inne, um Tenzin zu betrachten. Der stumme Tibeter, in dessen Nähe sie seit dem Hagelschauer geblieben war, ging wie rasend zu Werke. Mit besorgter Miene trat Nyma an ihre Satteltasche, holte eine mala , eine Gebetskette, daraus hervor und streckte sie Tenzin entgegen.
    Der stumme Tibeter sah die Perlen an, schien sie aber nicht richtig erfassen zu können. Sein Mund öffnete und schloß sich, als würde etwas in seinem Innern sich zu Wort melden und womöglich ein lange vergessenes Mantra aufsagen wollen. Seit Draktes Tod wirkte er entrückter als je zuvor und schien immer tiefer in seiner merkwürdigen Seelenqual zu versinken. Shan wußte, daß Überlebende des Gulags häufig so reagierten.
    Irgendein Ereignis stieß eine Tür im Gedächtnis auf, und ein Alptraum aus der Zeit der Gefangenschaft erwachte zu neuem Leben. Nyma drückte Tenzin die mala in die Hand und führte ihn zu seinem Pferd, während Dremu bereits wieder losritt.
    Sie waren erst zwanzig Minuten dem Ufer gefolgt, als der golok auf einer Hügelkuppe anhielt und abstieg, um beunruhigt den jenseitigen Hang zu mustern.
    Shan schwang sich ebenfalls vom Pferd und folgte Dremus Blick zu einem weißen Fahrzeug, einem Minibus, wie sie manchmal zum Passagiertransport zwischen Tibets Städten genutzt wurden. Der Wagen war offenbar auf einer schmalen unbefestigten Straße aus Südosten gekommen und dann auf den Trampelpfad eingebogen, der parallel zu den Seeufern verlief. Auf einem großen flachen Felsen vor dem Gefährt saßen zwei Männer, einer davon in der kastanienbraunen Robe eines Mönchs, der andere wie ein Geschäftsmann mit weißem Hemd und Krawatte, während drei weitere Männer in Mönchsgewändern sich krampfhaft bemühten, das im Schlamm festgefahrene linke Hinterrad freizubekommen.
    »Denen gehen wir lieber aus dem Weg«, warnte Dremu, doch Shan lief bei diesen Worten längst den Hügel hinunter.
    Die Männer auf dem Felsen blickten ihm teilnahmslos entgegen. Mit seinem breitkrempigen Hut und dem verschlissenen Mantel sah er wie ein gewöhnlicher dropka aus. Der Krawattenträger war ein Han-Chinese mittleren Alters mit beginnender Glatze, der sich das schüttere, aber an den Seiten lange Resthaar nach hinten gekämmt hatte. Die kleinen schwarzen Augen in dem breiten fleischigen Gesicht funkelten genauso wie die blankpolierten Schuhe. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette. Der Tibeter neben ihm besaß volles, ordentlich gestutztes Haar und trug eine Robe, wie Shan sie noch nie gesehen hatte, denn ihre Säume waren goldfarben, und auf der linken Seite der Brust schien sich so etwas wie ein eingesticktes Monogramm zu befinden. Zwischen ihnen auf dem Felsen stand eine Flasche mit einem orangefarbenen Getränk und daneben anscheinend eine Plastiktüte mit Sonnenblumenkernen.
    Der Han blies Shan eine lange Rauchfahne entgegen, als wolle er ihn verscheuchen. Shan nickte verhalten, wich den beiden Männern aus und verlangsamte den Schritt, um zu entziffern, was in hohen tibetischen und chinesischen Buchstaben auf der Seite des Fahrzeugs geschrieben stand. Neue Überzeugungen für das neue Jahrhundert , las er und darunter in kleineren Schriftzeichen die Abwandlung eines vertrauten Wahlspruchs: Erwerbt Wohlstand, indem ihr die Ketten des Feudalismus zerreißt.
    Er schaute sich nach seinen Gefährten um. Lokesh und Nyma folgten ihm, während Dremu und Tenzin sich zurückgezogen hatten, so daß nur noch ihre Köpfe über den Hügelkamm ragten. Nyma näherte sich dem Felsen mit den beiden Männern, erstarrte plötzlich und warf einen nervösen Blick den Hang hinauf, als denke sie an Flucht. Shan entdeckte einen kleinen Schriftzug auf der Fahrertür: Büro für Religiöse Angelegenheiten.
    »Schreihälse!« flüsterte Nyma erschrocken, als sie

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