Das tibetische Orakel
kommen, und vielleicht würde eines Nachts dieses Wesen.«
Sie wandte den Blick ab, als sei sie außerstande, von dem dobdob zu sprechen. Shan stand auf und nahm einen Beutel vom Sattel, denselben Beutel, den Drakte letzte Nacht zu der Einsiedelei mitgebracht hatte und der eine Schleuder und ein Geschäftsbuch enthielt. Von einer Minute zur anderen war der Sturm vorbei. Es klarte auf, und die karge Landschaft erstrahlte im Sonnenschein. Doch wie der Vorbote eines anderen, weitaus schlimmeren Unwetters hing die Bedrohung durch die Kriecher über ihnen.
Nyma schaute zu Dremu, als erwarte sie, daß er wieder die Führung übernehmen würde, aber der golok hatte vorerst nur Augen für die dropka , ihr Pferd und Tenzin, die er abwechselnd musterte. Als er den Blick der Nonne bemerkte, lächelte er matt, nahm das Fernglas und wagte sich vorsichtig nach draußen. »Zwei Soldaten knien auf der Motorhaube des Lastwagens«, berichtete er kurz darauf. »Vielleicht ist die Windschutzscheibe zu Bruch gegangen. Heute werden sie nicht mehr viel unternehmen.«
»Geht«, flehte die dropka. Noch immer lief ein schmales Blutrinnsal über ihre Wange. »Ich werde auf Shopo und den Lama des Reinen Wassers aufpassen.«
Tenzin schichtete ein wenig Yakdung neben ihr auf und entzündete daraus ein Feuer. Die Frau mahnte sie mit hastigen Bewegungen zur Eile, und so stiegen sie schweren Herzens auf ihre Pferde.
Während die anderen losritten, verharrte Shan noch für einen Moment. »Sag diesen Reitern hinter uns, sie sollen umkehren und dabei helfen, die Lamas zu beschützen«, bat er.
Als Shan unter dem Felsüberhang hervorkam, fuhr der Laster bereits wieder nach Süden, zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. »Ob die wohl zur 54. Gebirgsjägerbrigade gehören?« grübelte Shan laut.
Dremu grunzte lediglich und gab keine Antwort. Nyma starrte zu Boden und biß sich auf die Lippe. Der golok ritt einmal um die Gruppe herum und hielt dabei nach hinten Ausschau, bevor er den westlichen Hang hinuntertrabte. Shan reihte sich am Ende der Kolonne hinter Lokesh ein und ließ sein Pferd in langsamem Schritt gehen. Vor ihnen war die Armee, doch es gab kein Zurück mehr, denn hinter ihnen befanden sich die Kriecher und der wütende dobdob.
Nach einer Stunde erreichten sie den Kamm des letzten der niedrigen Hügel, die den See umgaben, und konnten die große türkisfarbene Fläche überblicken. Das vierzig Kilometer lange Gewässer, das in der Sonne funkelte und im Wind erzitterte, wirkte regelrecht lebendig. Nyma deutete auf mehrere dunkle Umrisse entlang der gegenüberliegenden Küstenlinie, kleine Punkte am Horizont: die schweren Filzjurten der dropka-Clans , die ihre Schafe auf die üppigen Frühlingsweiden getrieben hatten.
Sie ritten über blühende Wiesen, durchquerten zahllose Schmelzwasserbäche, trafen schließlich am Ufer des Sees ein und stiegen ab. Ganz in der Nähe schwamm ein riesiger Schwarm schwarzweißer Gänse, deren weiße Häupter in der Sonne glänzten. Die Tibeter nannten sie Kahlkopfgänse. Der Wind ließ nach, und das Geschnatter der Vögel erfüllte die Luft.
Auf einmal sprang Lokesh mit ausgebreiteten Armen an Shan vorbei und lief lachend wie ein Kind ins kalte Wasser, bis es ihm zu den Knien reichte. »Oah!« rief er in Richtung der Vögel und drehte sich dann mit breitem Lächeln zu Shan um. »So hat meine Mutter oft den Gänsen zugerufen. Es bringt Glück, wenn man einen so großen Schwarm auf dem Wasser entdeckt, hat sie immer gesagt. Es bedeutet, daß die Luft- und Wassergeister sich hier gut verstehen.«
Seine Mutter. Lokesh erzählte fast nie von ihr. Sie nahm in seinem Herzen einen ganz besonderen, heiligen Platz ein, ähnlich wie bei Shan der Vater. Lokeshs Mutter war 1940 gestorben, in dem Jahr, in dem der junge vierzehnte Dalai Lama in Lhasa eingetroffen war, einem Jahr großer Feiern und Bekräftigungen der alten Werte. Sie habe ein perfektes Leben geführt, hatte Lokesh einst gesagt, und sei zur perfekten Zeit gestorben, denn danach kamen die Jahrzehnte der Finsternis und Zerstörung.
Der alte Tibeter bückte sich, spritzte sich Wasser ins Gesicht und winkte Shan, er solle ihm folgen. Shan zögerte nur kurz und gesellte sich dann zu seinem Freund. »Oah!« rief auch er den Gänsen mit erhobenen Armen zu.
Lokesh lachte aus vollem Herzen. »Lha gyal lo!« rief er den Vögeln fröhlich entgegen.
Shan wusch sich in dem eisigen Wasser das Gesicht und hob eine Hand an den Mund, um zu
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