Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
liegen und gab Nachricht. Einige Monate später wurde ein Brief nach Lhasa geschickt, unterschrieben von allen Dorfbewohnern: eine Bitte um Rückgabe. Es passierte jedoch nur eines; das Bezirksamt schickte den Brief zurück und belegte uns mit zusätzlichen Steuern. Als die Chinesen letztes Jahr in Lhasa den ersten August feierten, ließ der Oberst den Stein mit Klebeband am Turm eines Panzers in der Parade befestigen.«
    Der erste August war ein Feiertag zu Ehren der Volksbefreiungsarmee. »Die Soldaten lachten und zeigten mit ausgestreckten Fingern darauf, um die Tibeter zu verhöhnen. Jemand hat ein Foto davon gemacht und es uns gebracht.«
    »Purbas« , sagte Shan, ohne mit einer Antwort zu rechnen. »Drakte hat das Auge zurückgestohlen.«
    »Nein, ich glaube, er war es nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Die purbas wissen, wie gefährlich es sein kann, Geheimnisse preiszugeben. Wir wollen es gar nicht erfahren. Immer wieder werden Leute verhaftet und von den Chinesen unter Drogen gesetzt, um ihre Zungen zu lockern.«
    »Aber du warst in Lhasa und hast den chenyi-Stein zu der Einsiedelei gebracht«, sagte Shan.
    Nyma schüttelte den Kopf. »Ich habe in unserem Tal gearbeitet«, sagte sie rätselhaft. »Eines Tages sprach unser Orakel darüber, daß ein Chinese das Auge wiederbringen würde. Ich dachte, sie meinte, die Armee würde es irgendwann zurückgeben. Erst später, als ich mit einigen purbas geredet habe, wurde mir gesagt, man habe das Auge den Dieben bereits entreißen können.«
    Unser Orakel. Die Nonne klang, als besäße jede Gemeinschaft noch immer einen eigenen Weissager, doch vor seiner Ankunft in der Einsiedelei war Shan kein einziger Tibeter begegnet, der je von einem aktiven Orakel berichtet hatte. Sogar für Lokesh, der so unerschütterlich an den Traditionen festhielt, waren die Orakel Teil einer fernen Vergangenheit.
    Die Nonne schaute fragend zu der schwarzen Wolke, die mittlerweile fast über ihnen schwebte. Auch Dremu hatte den Blick mißtrauisch und besorgt gen Himmel gerichtet und zog sich tiefer in die Höhle zurück.
    »Ich habe den purbas von dem Orakelspruch erzählt, und dann kam Drakte zu mir und stellte mir viele Fragen über das Auge und das Dorf. Später holten mich einige Leute ab und brachten mich zu der Einsiedelei.«
    Shan sah zu Tenzin, der nach vorn gekommen war, um die merkwürdige Wolke zu betrachten. Dann wandte er sich wieder an Nyma. »Warum sind die purbas dermaßen an der Rückkehr des Auges interessiert?«
    Die Nonne zuckte die Achseln. Sie berichtete hier von Dingen, die nur selten laut ausgesprochen wurden. »Die purbas wollen Gerechtigkeit. Es ist richtig, dies zu tun.«
    Draußen wurde ein Grollen laut - kein Donner, sondern ein plötzlicher starker Wind, der mit einer abrupten Dunkelheit einherging, als wäre es schlagartig Nacht geworden. Hagel fiel, erst winzige Krümel, gleich darauf hingegen große, schwere Körner. Die Nonne nickte in Richtung Himmel, als sei ihr etwas bewußt, das für alle anderen ein Geheimnis blieb. Lokesh drehte sich zu dem Tunnel um, der zum Herz des Berges führte, wo der hiesige Erdgott wohnen mochte.
    In Tibet gingen bisweilen so heftige Hagelschauer nieder, daß innerhalb weniger Sekunden ganze Ernten vernichtet wurden und sogar Menschen ums Leben kamen. Die Tibeter behandelten solche Toten mit besonderer Ehrfurcht, als sei das Opfer aus einem bestimmten Grund von einem Himmelsgott abberufen worden. Shan streckte den Arm hinaus in den Sturm. Der Hagel prickelte auf seiner Handfläche, doch er ließ sich nicht beirren und sammelte die Körner ein.
    Er spürte, daß neben ihm Nyma sich bewegte. Als er zur Seite blickte, sah er, daß sie versuchte, Tenzin von draußen zurück in die Höhle zu ziehen. Der hochgewachsene Tibeter hatte sich den Mantel ausgezogen und den Rücken in den Sturm gedreht, nur geschützt durch ein dünnes Hemd, so daß die Graupeln ihn peitschten. Eine jähe Bö trieb ein paar Körner schmerzhaft gegen Shans Wangen. Er ließ den Hagel aus der Hand fallen und zog sich in die Höhle zurück. Manchmal war es schwierig, nicht an Erdgötter zu glauben.
    Tenzin jedoch benahm sich sehr seltsam. Er wich vor der Nonne zurück, trat weiter hinaus in den Sturm, kniete nieder und krümmte sich nach vorn, die Hände im Nacken verschränkt. Es war, als würde er sich absichtlich auspeitschen lassen, als würde er die Götter darum bitten, ihn zu bestrafen. Auch er schien in dem Sturm etwas Bestimmtes zu sehen,

Weitere Kostenlose Bücher