Das tibetische Orakel
der Tibeter. Auf einmal bemerkte Shan, daß der Mann mit dem weißen Hemd, der Schreihals, ihn anstarrte. »Hier leben eigentlich nur Herdenbesitzer«, stellte der Mann fest. »Sie werden dropkas genannt.«
Er schien unversehens erkannt zu haben, daß auch Shan ein Han-Chinese war. Die kleinen schwarzen Augen bewegten sich rastlos umher und suchten den Hügel ab, wenngleich sein Kopf sich nicht regte.
Shan spürte, wie die Muskeln in seinen Beinen sich anspannten, als rechne ein Teil von ihm damit, daß der Schreihals ausholen und zuschlagen würde.
»Ihre Begleiter verstecken sich vor uns«, warf der elegante Mönch ganz beiläufig ein. »Sie sind so scheu wie Welpen und rennen gleich weg, wenn sie ein Auto sehen.«
Seine Stimme klang sanft und kultiviert; es war die Stimme eines Redners. »Diese Menschen müssen es endlich verstehen«, fügte er hinzu, als bitte er Shan um Unterstützung. »Sie brauchen unsere Hilfe.«
Dann reichte er Shan die restlichen Broschüren in seiner Hand. »Ich bin ihr Abt. Khodrak Rinpoche.«
Shan warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Er hatte noch nie gehört, daß ein Mönch sich selbst als ehrwürdigen Lehrer vorstellte.
»Die Leute benötigen unseren Schutz«, sagte Khodrak. »Sind Sie Lehrer?«
Die Regierung schickte bisweilen Lehrer in die ausgedehnten Weidegebiete der Nomaden. »Man begreift hier nicht, was auf dem Spiel steht«, fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten ist der Schlüssel für ihren Wohlstand. Eine Fehlinterpretation der Ereignisse kann gefährlich werden.«
Shan verstand kein Wort von dem, was die Männer da redeten. Der Chinese in dem weißen Hemd wirkte angespannt, beinahe wütend, der Abt hingegen, als würde er mit Shan eine Art politisches Zwiegespräch führen. Beide gingen davon aus, sich Shan anvertrauen zu können. In ihrer Welt reiste kein Han freiwillig mit Tibetern durch die entlegene Changtang, also mußte er in offiziellem Auftrag unterwegs sein.
»In dieser abgeschiedenen Gegend verbreiten Neuigkeiten sich nur sehr langsam«, tastete Shan sich vor.
Die beiden Männer sahen sich fragend und zögernd an. »Direktor Tuan hat einen schrecklichen Verlust erlitten«, sagte Khodrak und nickte in Richtung seines Begleiters. »Sein Stellvertreter, ein Mann namens Chao, wurde in Amdo ermordet. Wir alle müssen uns nun bemühen, eine falsche Reaktion darauf zu verhindern.«
»Ein stellvertretender Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten wurde ermordet?« fragte Shan langsam und mußte gegen ein plötzliches Frösteln ankämpfen. Der purba am Fluß hatte erzählt, ein Beamter sei getötet worden, ohne dabei zu wissen, daß es sich um einen Schreihals handelte. Eine schlimmere Neuigkeit war kaum denkbar, denn sie konnte für den betroffenen Bezirk das Kriegsrecht bedeuten. Das Büro für Religiöse Angelegenheiten war eines von Pekings Lieblingskindern und in Tibet das wichtigste Instrument zur politischen Einflußnahme.
Khodrak nickte ernst. »In einem Stall in der Nähe seines Büros. Der stellvertretende Direktor Chao ist ein Märtyrer unserer edlen Sache. Sie müssen auf der Hut sein. Es kündigen sich wichtige Entwicklungen an.«
Ein leitender Schreihals war umgebracht worden, und als Reaktion darauf wollten sein Vorgesetzter und der Abt Propagandamaterial unter den Hirten verteilen. Shan hob die Broschüren, die Khodrak ihm gegeben hatte. »Ich werde tun, was ich kann«, sagte er und ging los.
Während die anderen einstiegen, verharrte der stämmige Mönch einen Moment lang hinter dem Wagen und wischte sich mit einem Grasbüschel den Schlamm von den Händen. Shan bot ihm den Lappen an, den er als Taschentuch in seiner Gesäßtasche bei sich trug. Der Mann lehnte mit dankbarem Nicken ab und beugte sich vor. »Gib nicht viel auf ihre Worte«, raunte er vertrauensvoll. »In Wirklichkeit sucht der Abt nach einem Mann mit einem Fisch.«
Shan sah ihn verwirrt an. »Meinen Sie den Mörder? Hier vom See? Ein Fischer?«
Es ergab keinen Sinn. Die Tibeter in dieser Gegend aßen so gut wie nie Fisch und erst recht nicht Fisch aus einem heiligen See.
»Warne die dropkas , warne meine Leute«, drängte der Mönch und schloß sich hastig den anderen an. Er hatte seine Tür noch nicht ganz geschlossen, als Direktor Tuan bereits Gas gab und der Minibus lautstark davonraste.
Shan verfolgte, wie der Wagen auf dem Uferpfad entschwand. Hatte der Mönch andeuten wollen, ein Mann mit einem Fisch
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