Das tibetische Orakel
allerdings nicht das gleiche wie Nyma. Vielleicht hatte es auch nur mit Tenzin selbst zu tun, dachte Shan.
Nyma zog an Tenzins Schulter. Shan lief herbei, packte die andere Schulter, und gemeinsam zerrten sie ihn in die Höhle. Zunächst schien er ihren Griff gar nicht zu bemerken, doch dann sah er sie mit wildem, überraschtem Blick an. Sein Hemd war zerrissen und sein Rücken voller kleiner roter Punkte, wo die Hagelkörner ihn getroffen hatten.
Während Nyma ihm die chuba um die Schultern legte, keuchte Dremu erschrocken auf und wies in den Sturm. Ein schauriges Wehklagen hallte über den Hang, und ein gespenstischer Schemen schälte sich aus dem düsteren Grau, eine Gestalt auf einem kleinen schwarzen Pferd. Der Reiter saß vorgebeugt im Sattel, und das Tier galoppierte verzweifelt voran, um dem Hagel zu entrinnen. Das Geräusch waren die Schreie des Pferdes, weil die Körner in sein Fleisch stachen. Shan sah Nyma erschaudern und tiefer in die Höhle zurückweichen, sogleich gefolgt von den anderen Tibetern. Shan aber trat einen Schritt vor und ließ den kraftlosen Reiter ängstlich nicht aus den Augen. Das Tier konnte in seiner Raserei leicht in die Tiefe stürzen, wenn man es nicht fest am Zügel führte. Shan zog sich den Hut tief in die Stirn und lief ins Freie. Als das Pferd ihn sah, wieherte es laut und wurde langsamer, sobald Shan die Hand ausstreckte. Unmittelbar darauf führte er es im Laufschritt in die Höhle.
Der Reiter war eine Frau, wenngleich die Schnitte und Striemen in ihrem Gesicht es schwierig machten, Genaueres zu erkennen. Blut und Regentropfen liefen ihr über Stirn und Wangen. Ihr panischer starrer Blick unterschied sich kaum von dem ihres gehetzten Tiers, das mit bebenden Flanken zwischen den anderen Pferden hin und her lief und sich nicht berühren lassen wollte.
Dann sah die Frau Shan und packte ihn am Arm. »Ich habe sie gefunden, diese Hirten, nach denen du gefragt hast.«
Shan erkannte die matte Stimme und das geflochtene rote Stirnband. Es war die dropka vom Bergkamm, die Wächterin, die sich Vorwürfe gemacht hatte, weil der dobdob zu Drakte vorgedrungen war. Lokesh wischte ihr sanft das Blut vom Gesicht. »Sie hatten furchtbare Angst«, stieß die Frau keuchend hervor. »Es war bloß ein altes Ehepaar mit einer kleinen Herde und ein paar Hunden. Sie haben Drakte nicht zu Gesicht bekommen, aber ein alter Lama war über Nacht bei ihnen und wurde angegriffen.«
In das Blut, das weiterhin über ihre Wangen lief, mischten sich Tränen. Die Frau rang sich ein Lächeln für Lokesh ab, der erneut ihr Gesicht säuberte. »Die Kriecher sind hinter dem Lama her. Sie verfolgen ihn schon länger, sagen die Hirten.«
»Hinter welchem Lama?« fragte Shan beunruhigt und beugte sich vor. Sie konnte nicht Gendun oder Shopo meinen, denn die hatten sich letzte Nacht in der Einsiedelei aufgehalten.
Die dropka schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Diese alten Leute haben vor lauter Angst kaum einen vernünftigen Satz über die Lippen bekommen. Und sie hatten Hemmungen, von ihm zu erzählen. Einen Geisterlama haben sie ihn genannt. Manchmal sind Geister Wirklichkeit, sagten sie. Sie waren völlig außer sich. Der Lama ist noch vor Tagesanbruch verschwunden. Der alte Mann sagte, die Kriecher müßten ihn wohl erwischt haben, aber seine Frau war anderer Meinung. Sie sagte, Geister würden sich stets verflüchtigen, wenn die Sonne aufgeht.«
Der Wind wehte heftiger und strich heulend über den Felsvorsprung. Die Frau starrte auf ihre Handfläche, auf die ein Tropfen Blut gefallen war. Shan blickte überrascht auf und suchte nach dem Ursprung. Dann hob sie zitternd eine Hand und berührte seine Wange. Danach klebte Blut an ihren Fingern.
»Du hast dich verletzt«, sagte sie leise.
»Es ist bloß Hagel«, erwiderte Shan.
Der Blick der Frau klärte sich, und sie nahm Lokesh den Lappen aus der Hand, um Shans Gesicht abzuwischen. »Ich habe es nicht verstanden«, sagte sie. »Aber du wolltest es doch unbedingt wissen. Ich mußte dich finden, weil es womöglich eine Gefahr für das Auge bedeutet.«
Sie hielt inne und packte abermals Shans Arm. »Die Kriecher haben Drakte verwundet, so muß es gewesen sein. Um einen Lama zu beschützen, hätte unser Drakte sich gewiß auf einen Kampf mit ihnen eingelassen.«
Sie drehte sich nach ihrem Pferd um. »Und das«, sagte sie und zeigte auf den einfachen Holzsattel. »Ich wollte, daß du es bekommst. Wir können es nicht behalten, denn die Kriecher
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