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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Shan erreichte. So wurden die Angehörigen dieser Behörde von vielen der purbas genannt, weil sie den Tibetern häufig schrille Strafpredigten hielten. Anfangs hatten die Schreihälse tamzings veranstaltet, Agitationssitzungen, die lange Zeit als beliebteste Maßnahme der politischen Umerziehung galten. Nachdem die tamzings in Parteikreisen an Beliebtheit eingebüßt hatten, blieben diese Leute ihrem Spitznamen weiterhin treu, allerdings auf subtilere Weise: Mittlerweile bedachten sie die Tibeter mit feurigen Ansprachen, in denen der traditionelle Buddhismus als Sünde gegen den Sozialismus angeprangert wurde.
    Mit trockener Kehle wandte Shan sich zu dem Han mit der Krawatte um. Dies waren die Männer, die Nonnen und Mönchen Lizenzen erteilten oder verweigerten, die je nach politischer Gesinnung der Bewohner über die Finanzmittel der gompas entschieden und die mit einem Federstrich Klöster öffneten oder schlossen und das Recht auf Religionsausübung bewilligten.
    Nyma zog sich den Hut tiefer ins Gesicht und trat dicht neben Shan. Ihr Gewand blieb unter der chuba verborgen.
    Die drei Mönche mühten sich an dem Rad ab und hatten dazu lediglich eine kleine Kelle und den langen Stiel eines Wagenhebers zur Verfügung. Zwei der schlammbespritzten Männer knieten neben dem Reifen, während der dritte, ein untersetzter Mönch mit den dicken Armen und breiten Händen eines Arbeiters, Steine vom Hang herbeischleppte.
    »Auf der Straße war eine Schafherde«, erklärte der breitschultrige Mönch und ließ die Steine neben den Bus fallen. Seine beiden jüngeren Kameraden warfen ihm warnende Blicke zu, als wollten sie ihn am Reden hindern. »Sie konnten nicht warten, also sind sie abgebogen, um darum herum zu fahren. Ich weiß nicht, was sie wütender gemacht hat: daß wir hängengeblieben sind oder die Art, wie all diese Schafe sie angestarrt haben, nachdem wir im Schlamm steckten.«
    Nyma kicherte leise und sah sich hektisch nach den Männern auf dem Felsen um.
    »Hier im Matsch herumzuwühlen bringt gar nichts«, sagte Lokesh zu den verdreckten Mönchen. »Ihr müßt dafür sorgen, daß der Reifen irgendwie Halt bekommt.«
    Beifällig deutete er auf die Steine, die der dritte Mönch gesammelt hatte, und folgte dem stämmigen Mann dann zum Hügel, um noch mehr davon zu holen.
    Sie seien eine mobile Bildungseinheit und würden der Bevölkerung die neuen Regierungsprogramme erläutern, sagte der Mann, als Shan sich zu ihm und Lokesh gesellte. »Und wir zählen die Gerstenfelder.«
    Shan hob verdutzt den Kopf. Das hier war Nomadenland. Er bezweifelte, daß es im Umkreis von hundert Kilometern auch nur ein einziges Gerstenfeld gab. »Aber ihr stammt aus einem gompa« , stellte er fest.
    »Khangnyi.«
    Das hieß Zweites Haus. »Das einzige gompa weit und breit.«
    Er hielt inne und schaute zu den Männern auf dem flachen Felsen. Der Wind war vollständig abgeflaut, und über ihren Köpfen hing eine Wolke aus Zigarettenrauch. Der Mönch sah verwirrt aus, als gäben die beiden Männer ihm ein Rätsel auf. Er bückte sich, um den nächsten Stein aufzuheben.
    »Was denn für Regierungsprogramme?« fragte Shan.
    Der Mönch sah ihn verunsichert an. »Erwerbt Wohlstand, indem ihr die Ketten des Feudalismus zerreißt«, rezitierte er im gleichförmigen Tonfall eines Mantras, als wolle er einen eventuellen falschen Eindruck korrigieren, und trug seine Steine weg.
    Zehn Minuten später war der Minibus frei. Die beiden Männer standen von dem Felsen auf, streckten sich träge und gingen zu den Vordertüren des Wagens. Während Nyma und Lokesh bereits wieder den Hügel hinaufeilten, beugte der Mönch in der eleganten Robe sich ins Fahrzeug, nahm einige Broschüren und gab eine davon Shan.
    »Haben Sie es begriffen, Genosse?« fragte er plötzlich und mit funkelndem Blick. Seine Hakennase verlieh ihm das Aussehen eine Falken. Sein Begleiter kam näher und deutete streng auf den Titel der Druckschrift: Klarheit und Wohlstand.
    Shan sah die Männer unschlüssig an. Aus irgendeinem Grund mußte er daran denken, wie ihn vor vielen Jahren in Peking eine ernste junge Frau mit leuchtendweißer Bluse angehalten, ihm ein Flugblatt überreicht und gefragt hatte: »Bist du ein gläubiger Mensch?«
    Diese Leute hier waren in gewisser Weise ebenfalls Missionare und im Auftrag der gottlosen Behörde unterwegs, die über die Götter Tibets zu befinden hatte.
    Klarheit und Wohlstand. Er musterte die Worte. Sie klangen wie ein grausamer Scherz auf Kosten

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