Das tibetische Orakel
jenen Pfad, auf dem Shan und seine Freunde am Vortag eingetroffen waren. Eine einzelne Gestalt erschien im Laufschritt auf der Kuppe des nächstgelegenen Hügels und winkte Lhandro zu. Shan sah, daß es einer der Männer aus Yapchi war. Er wirkte erschöpft und trug einen alten Vorderlader bei sich. Der Mann hatte nachts Wache gehalten und den Weg nicht aus den Augen gelassen.
Die anderen Bewohner des Salzlagers versammelten sich an dem Pfad, der nach Norden führte, und verfolgten mit merkwürdig feierlichen Mienen, wie Lhandro die Reihe beladener Schafe und seine Begleiter inspizierte und dann Anya zunickte, die ganz vorn stand. Das Mädchen rückte sich die chuba zurecht, pfiff den Hunden zu und machte sich mit schiefen Schritten auf den Weg. Dabei stimmte sie eines ihrer unheimlichen Lieder an, und die Schafe und Hunde folgten ihr wie gebannt.
»Lha gyal lo!« rief eine Frau neben einem der dropka - Zelte, und die anderen griffen den Ruf auf, sehr zu Lokeshs unverkennbarem Vergnügen. Als die Salzsammler hinter ihnen zurückblieben, drehte der alte Tibeter sich noch einmal um und rief zum Abschied die gleichen Worte. Tenzin und die Männer aus Yapchi führten die Packpferde mit der Ausrüstung.
Das Dorf schickte schon seit Menschengedenken Salzkarawanen zum See, erklärte Lhandro, der neben Shan ging - und meinte damit eine Spanne, die bis in die Zeit reichte, als Buddha und der Weg des Dharma noch nicht nach Tibet gekommen waren. Mehr als zwölf Jahrhunderte. Den größten Teil des Vormittags erzählte Lhandro dann von diesen früheren Karawanen und schilderte Personen und Ereignisse, die fünfzig, hundert und sogar fünfhundert Jahre zurücklagen, als entstammten sie der jüngsten Vergangenheit. Ein Bauer namens Saga hatte in der Nähe des Sees einst einen sterbenden westlichen Priester gefunden, einen Jesuiten, und eine Pause von einer Woche eingelegt, um für sein Grab eines der Kreuze seines Gottes aus dem Felsen zu meißeln, da es hier nirgendwo Holz gab. Als in einem Winter eine schreckliche Krankheit über das Dorf hereinbrach, zogen alle gemeinsam zum See, um in dessen heilendem Wasser zu baden. Ein anderes Mal folgte ein wilder schneeweißer Yak einer Karawane den ganzen Weg nach Hause und ließ sich auf dem Berg oberhalb von Yapchi nieder, um während der folgenden beiden Jahrzehnte jedes Jahr an Buddhas Geburtstag dort aufzutauchen.
Die Geschichten gingen Shan beharrlich durch den Kopf, während Kilometer um Kilometer des leeren Weidelands hinter ihnen zurückfiel und dadurch gleichsam alle Gefahren in weite Ferne zu rücken schienen. Sie führten die Schafe am östlichen Ufer entlang und dann in ein langes grasbewachsenes Tal, das zu einem Paß in der ersten Bergkette anstieg. Shan überkam ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Was hatte sich geändert? Die Tibeter hatten ihn viele Wege gelehrt, die Welt zu betrachten. Einer davon war die Erkenntnis, was für seltsame Dinge die meisten Menschen unter dem Begriff Fortschritt oder gar Zivilisation verstanden. Shan hatte seine Persönlichkeit im Verlauf der vier Jahre Haft und Sklavenarbeit weiter entwickelt als während der vorhergehenden drei Jahrzehnte in Peking, als es ihm noch um die Ansammlung jener kargen Habseligkeiten gegangen war, anhand derer viele Leute persönliche Erfolge beurteilten. Und nun brachte er Salz nach Yapchi, ging neben den Schafen einher und befand sich in der Gesellschaft von ruhigen, fröhlichen Tibetern unter einem kobaltblauen Himmel, während ein schlichter Schnürbeutel all seine irdischen Besitztümer enthielt. Shan fühlte sich, als habe er womöglich den Höhepunkt der Zivilisation erreicht.
Hatte sich seit jenen ersten Karawanen etwas Wesentliches geändert? überlegte er. Die Hirten wagten sich immer noch zu Fuß durch die rauhe felsige Landschaft, brachen die Salzkruste weiterhin mit ihren Holzstößeln, schliefen in Zelten aus Yakfell und packten das Salz auf die Rücken ihrer Schafe, verstaut in Beuteln, die aus der Wolle derselben Tiere gewebt waren. Auch heute noch erfreuten sie sich an dem süßen Geschmack der Milch ihrer Herden, die auf den Frühlingsweiden grasten. Nichts hatte sich verändert. Oder alles, dachte Shan bekümmert und sah zu dem kräftigen Widder, der den Sack mit dem roten Kreis trug. Denn diesmal brachte eines der Schafe das Auge einer Gottheit mit, gestohlen von Leuten, die ein ganzes Dorf niedergemetzelt hatten. Verfolgt wurde das Auge von einem Mörder. Von einem Mörder und einem Zug
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