Das tibetische Orakel
und denen dieser Wunsch versagt worden war. Manche gaben einfach auf und fanden sich damit ab, daß ein solches Leben bis zu einer zukünftigen Inkarnation würde warten müssen. Andere bemühten sich weiter und versuchten zu lernen, wie man Nonne oder Mönch sein konnte, ohne je richtige Lehrer oder Vorbilder gehabt zu haben. Du mußt dein gompa auf dem Rücken tragen, hatte Gendun einmal zu einem verzweifelten ehemaligen Mönch gesagt.
»Was wir mit dir gemacht haben, kommt mir wie eine Lüge vor«, platzte es aus Nyma heraus. »Eine Nonne, die dem Weg des Mitgefühls folgt, hätte sich anders verhalten, da bin ich mir sicher. Du wußtest nichts von den Soldaten und dem chenyi-Stein. Wir haben dir nicht verraten, daß Chinesen und Amerikaner im Tal von Yapchi nach Öl bohren. In der Einsiedelei hätte ich dir von dem Öl erzählen können, aber ich hatte Angst, dich dadurch zu vertreiben. Jetzt ist ein Mörder hinter uns her, dieser verrückte golok paßt auf das Auge auf, und ich fühle mich schuldig, weil wir dich getäuscht haben. Außerdem habe ich Angst. Als Drakte sagte, der Dämon würde Gebete töten, hatte er recht. Seit dieses Wesen in die heilige Stätte gekommen ist, habe ich nicht mehr beten können, nicht aufrichtig und aus vollem Herzen. Ich habe den ganzen Tag furchtbare Angst gehabt. Es werden schreckliche Dinge geschehen, das kann ich spüren. Du mußt glauben, wir haben dich betrogen. Du mußt uns für töricht und rücksichtslos halten, daß wir uns durch die Worte des Orakels zu solchen Handlungen haben hinreißen lassen.«
»Ich wäre mitgekommen«, sagte Shan. »Auch wenn du mir alles erzählt hättest, hätte ich es vielleicht nicht verstanden, aber ich wäre trotzdem mitgekommen. Falls die Lamas mich bitten würden, zum Mond zu fliegen, würde ich hundert Gänse zusammenbinden und es versuchen.«
Nymas trauriges Lächeln im Mondlicht erinnerte ihn an eine alte Buddhastatue aus Elfenbein.
»Hast du noch Familie in Yapchi?« fragte Shan nach langem Schweigen.
»Ich nenne Lhandro manchmal Onkel, aber er ist bloß ein Cousin. Ich habe keine engen Angehörigen mehr, und ihm sind nur noch seine Eltern geblieben. Vor vielen Jahren wollte er heiraten, aber seine künftige Frau wurde zur Umerziehung weggeschickt und ist nie zurückgekommen. Das Haus meiner Mutter steht dort. Ich bin dort zu Hause.«
Zu Hause. Shan schämte sich, denn er empfand plötzlich Neid auf die Dorfbewohner, trotz all der Schwierigkeiten in ihrem Tal. Sie hatten ein Heim, fühlten sich einander verbunden und waren mit dem Land verwurzelt. Er hatte niemanden, abgesehen von Lokesh und Gendun - und einem Sohn, der nichts mit ihm zu tun haben wollte und ihn bestimmt längst für tot hielt.
Als Shan aufgewacht war, hatte er gesehen, daß Lhandro, Nyma, Anya und zwei der stämmigen Männer aus Yapchi die kleinen Zwillingssäcke Salz auf einer Decke anordneten.
Lhandro zählte sie ab und kam auf insgesamt vierzig Paare. Anya führte ein Schaf nach vorn, und Nyma, die ihre Wangen inzwischen ebenfalls mit roter doja-Creme bestrichen hatte, legte dem Tier flink die Beutel über den Rücken und band ihm die losen Schnüre unter dem Bauch zusammen, so daß es so aussah, als würde es einen gewebten Sattel tragen. Die Männer aus Yapchi taten es ihnen gleich und arbeiteten schnell; einige holten nacheinander die Schafe, während die anderen schon mit den prallen Salzbeuteln bereitstanden. Nachdem alle Tiere bis auf einen kräftigen braunen Widder beladen waren, rief die Nonne Shan herbei und öffnete einen der Säcke, den einzigen, der noch leer zu sein schien. Lhandro brachte einen Ledereimer Salz, und Nyma deutete auf die Satteltasche, die Shan in der Hand hielt, die Tasche, die er aus der Einsiedelei mitgenommen hatte. Shan zögerte. Dann öffnete er die Tasche und streckte sie der Nonne entgegen. Doch Nyma schüttelte den Kopf, als fürchte sie sich immer noch vor dem Inhalt, und wies auf den Beutel, in den Lhandro unterdessen eine Handvoll Salz füllte. Shan holte das Zedernkästchen hervor, legte es in den Beutel und sah mit unerwartet schlimmem Vorgefühl dabei zu, wie Lhandro es mit Salz bedeckte, eine lange Nadel nahm und den Sack zunähte. Der Webbeutel besaß ein mehrfarbiges Muster mit einem roten, weiß umrandeten Kreis in der Mitte. Wie ein zorniges, wachsames Auge.
Während der rotäugige Beutel auf den Rücken des braunen Widders gebunden wurde, schaute Lhandro den Uferpfad in südlicher Richtung entlang, genau
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