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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Verwurzelung zwischen Land und Volk viel tiefer reiche und das Land sich weitaus stärker selbst zum Ausdruck bringe.
    Als sie am folgenden Morgen aufbrachen, mußte Shan an die Worte des Lama denken. Über den nördlichen Gipfeln tobte ein kleiner, aber kräftiger Sturm und hüllte sie im einen Moment in einen weißen Vorhang aus wirbelndem Schnee, nur um im nächsten Augenblick aufzureißen und einen Teil der Hänge in gleißendes Sonnenlicht zu tauchen. Im Süden jagten Wolken über eine andere Bergkette hinweg und überzogen die Gipfel mit einem dermaßen schnellen Schattenspiel, daß die Berge selbst sich in Bewegung zu setzen schienen. Genau dazwischen war die Luft über dem großen See klar und frisch unter einem kobaltblauen Himmel. Im Laufe der letzten Stunden hatten die Gänse sich ganz in der Nähe des Salzlagers gesammelt. Lokesh stand am Ufer und sprach mit ihnen - oder vielleicht auch mit seiner Mutter-, um sich zu verabschieden. Hinter Shans altem Freund lag eine Nacht ohne Schlaf. Als der Mond über dem heiligen Gewässer aufgegangen war, hatte Lokesh plötzlich verkündet, er fühle sich seiner Mutter so nahe wie schon seit Jahren nicht mehr und wolle dieses Gefühl so lange wie möglich auskosten. Es müsse wohl an den Gänsen liegen, hatte Lokesh beschlossen, und er wolle die Nacht in ihrer Nähe verbringen.
    Als Shan sah, wie sein Freund auf einem Felsen am dunklen Wasser Platz nahm, wollte auch er selbst eine Art Nachtwache einlegen, allerdings auf dem Kamm eines Hügels. Er hoffte auf einen jener seltenen Momente, in denen es ihm gelang, eine Verbindung zu seinem Vater herzustellen, in denen er plötzlich Ingwer roch und weit hinten in einem langen leeren Korridor seiner Erinnerung ein heiseres, kehliges Lachen hörte. Doch nach einer Stunde gab er es auf, denn er erkannte, daß sein Vater sich niemals nähern würde, solange das Bild von Draktes Tod Shan noch derart deutlich vor Augen stand.
    Der Mondschein auf dem See ließ auch Nyma nicht unbeeindruckt. Shan sah sie auf einem weißen Felsen sitzen, gegen den leise das Wasser plätscherte. Er wollte sie nicht stören und schickte sich schon an zu gehen, als sie zu sprechen begann.
    »Früher«, sagte sie, »sind mehrmals pro Jahr Besucher aus den gompas ins Dorf gekommen. Heute kommt niemand mehr. Keine Mönche. Keine Nonnen. Vielleicht ist es ganz einfach, vielleicht haben wir uns so weit von allem entfernt, daß kein Gott mehr daran interessiert ist, uns zu helfen.«
    Shan war sich nicht einmal sicher, daß sie mit ihm sprach, bis sie den Kopf wandte und ihn ansah. »Sie haben dich«, brachte er unbeholfen vor und kam näher. Zum erstenmal seit er sie kannte, sah er sie mit offenem Haar. Es war lang und reichte ihr fast bis zur Taille.
    »Eine richtige Nonne, meine ich. Ich bin keine richtige Nonne«, stellte Nyma in nüchternem Tonfall fest.
    Auf seltsame Weise schienen diese Worte ihn mehr zu schmerzen als sie. »Für mich bist du eine richtige Nonne«, sagte Shan.
    Im Mondlicht konnte er den Anflug eines traurigen Lächelns auf ihrem Gesicht sehen. »Nein«, seufzte Nyma. »Sie haben das Kloster geschlossen, in dem ich ausgebildet wurde, und alle echten Nonnen weggeschickt. Ich konnte nur noch in mein Dorf zurückkehren.«
    Sie hob den Kopf gen Himmel. »Wenn ich in eine Stadt gehe, trage ich die Kleidung einer armen Bäuerin. Mir fehlt der Mut, auch dort mein Gewand anzulegen«, gestand sie dem Mond. »Ich trage ja nicht einmal mein Haar kurz wie eine Nonne. Lhandro sagt, es könnte zu gefährlich sein, falls die Schreihälse kämen.«
    »Und was würdest du Yapchi im Gefängnis noch nützen können?« fragte Shan, denn genau dorthin würde man sie schicken, falls sie sich auf offener Straße in einem illegalen Nonnengewand erwischen ließ.
    Nyma antwortete nicht oder hatte ihn gar nicht gehört. Eine einzelne Gans stieß einen Schrei aus.
    »Ich kenne jemanden, der hat tagelang dagesessen und gewartet, daß das Eis schmelzen würde, nur um ein wenig Sand zu holen«, sagte Shan nach einem langen Blick auf das vom Mond beschienene Wasser. »Diese Frau war eine Nonne.«
    »Ich habe bloß so getan. Ich kann auch tun, als wäre ich eine Schäferin oder Bäuerin.«
    Shan setzte sich auf einen Felsen neben ihr. »Warum gehst du so hart mit dir ins Gericht?« flüsterte er und fühlte sich unvermutet hilflos. Überall in Tibet gab es Menschen wie Nyma, Tausende von Männern und Frauen, die danach gestrebt hatten, Mönche und Nonnen zu werden,

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