Das tibetische Orakel
sie hat gesagt, danach müsse ich das wahre Herz unserer Unterdrücker finden und es durch ein Licht des Mitgefühls erhellen.«
Shan suchte in der Miene seines Freundes nach einer Erklärung.
»Darauf hätte ich schon längst kommen müssen«, sagte Lokesh mit erstauntem Unterton. »Aber erst meine Mutter hat mir die Augen geöffnet. Er ist aus Fleisch und Blut, und er hat ein Herz wie jeder andere Mensch. Auch er hat einen Gott, der zerbrochen ist.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich gehe nach Peking«, verkündete Lokesh mit funkelndem Blick. »Ich werde wie ein Pilger nach Norden wandern, um mir Verdienste zu erwerben. Mein Ziel wird das Haus dessen sein, den sie den Vorsitzenden nennen, dort in ihrer Hauptstadt.«
Im ersten Moment wollte Shan laut auflachen, aber dann sah er die Entschlossenheit in den Augen des alten Tibeters und erschauderte. »Das kannst du nicht.«
Lokesh zuckte die Achseln. »Meine Beine sind stark. Ich gehe einfach ungefähr zwei Monate lang nach Norden und dann weitere drei oder vier Monate nach Osten.«
»Ich meine, man wird es dir nie gestatten. Du könntest es gar nicht schaffen«, sagte Shan, begleitet von einem Laut, der wie ein Stöhnen klang.
»Ich muß allein gehen, mein Freund«, erwiderte Lokesh, als habe Shan angeboten, ihn zu begleiten. »Dies ist eine Aufgabe für meine Gottheit, nicht für deine. Außerdem ist es in China zu gefährlich für dich.«
»Man wird dich nicht mal auf einen Kilometer an ihn heranlassen.«
Shan bekam auf einmal kaum noch Luft. Sein tibetischer Onkel wollte sich denselben Leuten opfern, die Shans Vater und seine leiblichen Onkel getötet hatten.
Lokesh legte ihm eine Hand auf den Rücken und ließ sie dort, als wolle er Shans Herzschlag fühlen. »Ich erzähle dir das nicht, um dich zu ängstigen. Ich habe meiner Mutter versprochen, ich würde losgehen und mit dem Vorsitzenden reden, damit er die Wahrheit über alles hier begreift. Und ich wollte, daß du Bescheid weißt, wenn der Zeitpunkt kommt, an dem wir uns trennen müssen.«
Er zeigte auf eine einzelne Gans, die in den Sonnenuntergang flog. Shan sah erst ihn und dann den Vogel an, bis Nyma sie beide zum Essen rief.
Im Lager brachte Lhandro eine Blase voll frischem Joghurt zum Vorschein, ein Geschenk der dropkas vom See, und dann eine Tierhaut voller Rahm, der den ganzen Tag auf einem der Packsättel durchgewalkt und zu dicker süßer Butter geworden war. Die rongpas rollten die Butter mit dem tsampa zu kleinen Kugeln und aßen sie begeistert zu ihren Schalen mit Tee. Während die anderen die schweren Filzdecken auf dem Zeltboden ausbreiteten, nahm Shan seine Decke mit nach draußen, legte sich hin und betrachtete den Nachthimmel. Er mußte gegen ein Gefühl der Trostlosigkeit ankämpfen. Manche Tibeter glaubten, daß gepeinigte Seelen viele Stufen der Hölle durchquerten, bis sie sich befreien konnten. In Shans persönlicher Hölle vermochte nur er die Martern und Qualen zu sehen, die jenen drohten, die seinem Herzen am nächsten standen - und er konnte nichts tun, um es zu verhindern.
Er wachte plötzlich auf und merkte erst dadurch, daß er zuvor geschlafen hatte. Mit angehaltenem Atem begriff er, daß dicht über ihnen eine Sternschnuppe aufgeleuchtet war, wenngleich er sich nicht erinnern konnte, sie gesehen zu haben. Dergleichen passierte nicht zum erstenmal. Im Verlauf ihrer Pilgerreise hatte er Lokesh von einem ähnlichen Vorfall erzählt, was für seinen alten Freund offenbar ein Anlaß zur Freude gewesen war. »Es ist ein Anzeichen für ein neues Bewußtsein«, hatte Lokesh gesagt. »Wenn du es in deinem Innern spüren kannst, ist es da nicht genauso real, als hättest du es mit deinen Augen gesehen?«
Doch damals wie heute empfand Shan diese Erfahrung als zermürbend. In seiner Welt war es schwierig genug, sich einen Blick für die Realität zu bewahren, auch ohne daß seine tibetischen Freunde ihn zu lehren versuchten, wie vielgestaltig die Wirklichkeit daherzukommen pflegte.
Hellwach lag Shan nun da und beobachtete den Mond, der über den Bergen aufging. Allmählich gelang es ihm, den Schmerz zu verdrängen, der seinen Blick auf Draktes Tod bisher beeinträchtigt hatte, so daß er die Geschehnisse immer wieder langsam vor dem inneren Auge ablaufen lassen und nach einem Anhaltspunkt suchen konnte. Er sah, wie Drakte beim Anblick des dobdob das Kinn hob und die Stirn runzelte. Obwohl der purba ein Messer am Gürtel trug, griff er nicht etwa danach, sondern nach seinem
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