Das tibetische Orakel
Gebirgsjäger. Und vielleicht sogar noch von jemand anderem. Je häufiger er Draktes letzte Momente Revue passieren ließ, desto mehr fragte er sich, ob die Warnung des purba sich auf eine andere Person und nicht auf den dobdob bezogen hatte. Falls der Tibeter gewußt hätte, daß der dobdob ihnen ein Leid zufügen wollte, oder falls dort ein Kriecher oder Soldat gestanden hätte, wäre der Drakte, den Shan kannte, dem Eindringling entgegengetreten, um die Lamas zu verteidigen. Doch Drakte hatte bei der Ankunft des dobdob einfach dagestanden und war vor lauter Verblüffung erstarrt, genau wie Shan und die anderen.
Er blieb stehen und wartete auf Lokesh, der am Ende der Karawane ging. »Wenn du noch einmal an den dobdob zurückdenkst, siehst du dann einen echten dobdob vor dir oder jemanden, der sich nur so verkleidet hatte?« fragte er seinen alten Freund. Shan wußte aus eigener Erfahrung, daß ein Mörder durchaus mit Erfolg die alten Kostüme benutzen konnte, um seine Opfer einzuschüchtern und zu verwirren.
Lokesh blickte zu einem Wacholderbaum, der auf der Kuppe eines nahen Hügels wuchs. Es war der einzige Baum weit und breit. »Ich sehe ihn, wenn ich abends einschlafen will. Ich sehe ihn, wenn ich morgens aufwache«, sagte er mit schwerer Stimme und wandte sich wieder Shan zu. »Es war keine Täuschung. Das war ein echter Mönchspolizist.«
»Aber du hast gesagt, man habe sie seit Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
»Ich zumindest habe keinen mehr gesehen. Und auch sonst niemand. Fast niemand.«
»Ein dobdob würde einen Beamten des Büros für Religiöse Angelegenheiten als Feind betrachten«, sagte Shan. Dieses zeitliche Zusammentreffen ließ ihm keine Ruhe. Drakte und Chao waren vermutlich am selben Abend angegriffen worden.
»Ein Schreihals würde einen dobdob als Feind betrachten«, korrigierte Lokesh. Dann beschleunigte er seinen Schritt, als wolle er weiteren Fragen ausweichen. Ein Mönch, sagte Lokesh damit, würde in den Leuten des Büros keine Feinde sehen, sondern lediglich Menschen mit verkümmertem Bewußtsein. Doch ein echter dobdob würde nur die Befehle eines Lama oder leitenden Mönchs befolgen. Hatte Drakte den Zorn eines Lama erregt?
Shan bemerkte eine Gestalt in einem Gewand, die sich weit abseits der Karawane hielt und mit gesenktem Blick ging, als gehöre sie gar nicht zu den anderen. Als er sah, daß Lhandro die Gestalt besorgt musterte, gesellte er sich zu dem rongpa.
»Als Nyma bei euch war, hat sie da immer.«, setzte Lhandro an und rang nach den richtigen Worten. Dann sah er Shan fragend an. »Letztes Jahr wollte sie nach Indien fliehen und sich dort ein Kloster suchen. Ich habe sie davon überzeugt, es nicht zu tun. Jetzt glaube ich, das war falsch von mir.«
»Sie war uns immer eine große Hilfe«, sagte Shan, dem nicht ganz klar war, was Lhandro eigentlich fragen wollte.
Der rongpa wirkte erleichtert. »Sie war erst fünfzehn, als die Regierung ihr Kloster schloß. Zwei Jahre zuvor war sie fortgegangen. Wenig später starb ihre Mutter. Es erschien ihr aussichtslos, ein anderes Kloster zu finden, also legte sie das Gewand ab und hütete die Schafe des Dorfes. Dann jedoch, drei Jahre später, fand sie Anya, die zitternd auf einem Felsen lag und alte Schriften rezitierte, die keiner von uns je gehört hatte. Es verstörte Nyma noch mehr als Anya selbst. Sie sagte, die Beschaffenheit unseres Gottes würde enthüllt, und zog wieder ihre Robe an. In einer schmalen Schlucht hinter dem Dorf haben sie und Anya dann eine kleine Kapelle errichtet und dort stundenlang meditiert. Und sie hat mir andauernd Fragen gestellt: Wie würde eine Nonne dies tun, was würde eine Nonne davon halten, wie war es damals, als regelmäßig Mönche ins Tal kamen?«
Er seufzte und wollte weitergehen, als Anya nach Nyma rief und die Nonne sich zur Spitze der Kolonne auf den Weg machte. Lhandro drehte sich wieder zu Shan um. »Aber der letzte Besuch der Mönche liegt viele Jahre zurück. Mein Vater hat einmal zu ihr gesagt, sie solle sich nicht um das Studium des Mitfühlenden Buddhas bemühen, sondern einfach nur um das Studium der Mitfühlenden Nyma.«
Er lächelte gequält und stieg dann auf einen Felsbrocken, um mit erneut sorgenvoller Miene nach hinten Ausschau zu halten.
Wenigstens die anderen Dörfler schienen sich keine Gedanken über einen Mörder oder die Gefahren des chenyi-Steins zu machen. Je mehr Zeit verstrich, desto fröhlicher wurden sie und stimmten Lieder an, die schon
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