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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erklingt ein Lied.«
    Er glaubte fest daran, daß unbeseelte Gegenstände zum Leben erwachen konnten, wenn ein Gott von ihnen Besitz ergriff. Lokesh ließ den Blick über die Landschaft schweifen und wies schließlich auf einen Hügel. Sie gingen darauf zu und hielten an, um erneut zu lauschen, als Lhandro ihnen zurief, sie sollten umkehren.
    »Laßt sie in Ruhe«, warnte der Bauer und eilte an ihre Seite. »Sie braucht diese Zeit.«
    Als er die fragenden Mienen bemerkte, hob Lhandro einen Finger an die Lippen und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Dann hielt er inne, denn sie sahen nun auf der anderen Seite des Hügels ein Mädchen in einer flachen Mulde sitzen. Es war Anya, das verkrüppelte Kind mit den Zöpfen und den roten Wangen. Sie hielt ein Lamm auf dem Schoß. Dem Tier hing die Zunge aus dem Maul, und es atmete schwer.
    »Anya ist eine Waise, genau wie das Lamm«, sagte Lhandro. »Die Mutter des Lamms wurde vor ein paar Tagen von wilden Hunden getötet, und zur Zeit gibt kein anderes Schaf Milch. Anya hat versucht, es mit Ziegenmilch zu füttern, aber es wollte nicht trinken. Spätestens heute abend ist es tot.«
    Er schaute hinaus auf den See. »Manchmal spricht sie die Worte der Götter.«
    Sie lauschten in die Stille. Das Mädchen sang dem Lamm etwas vor, seine hohe Stimme war wie ein Flüstern im Wind. Shan konnte die Worte nicht verstehen, aber sie waren überwältigend schön, irgendwie unheimlich und doch besänftigend, so natürlich, daß es Shan vorkam, als hätte die Mutter des Lamms genau diesen Ton gewählt, wäre sie dort gewesen, um ihren Kummer zum Ausdruck zu bringen.
    Lokesh neigte den Kopf und schloß die Augen. Auch andere hörten zu. Tenzin saß im Frühlingsgras auf dem gegenüberliegenden Hügel und sah das Kind traurig an. Neben ihm lag einer der großen Mastiffs und wirkte ebenso einsam wie der Tibeter. Shan betrachtete Anya, dann den Himmel über ihren Köpfen. Als er wieder Lokesh ansah, rann eine Träne über seine Wange, und sein alter Freund nickte ihm wissend zu, als wolle er sagen, ja, es war tatsächlich eine Gottheit, die sie hier singen hörten.
    »Als ich noch klein war, hat meine Mutter auch immer so gesungen«, sagte jemand hinter Shan. »Sie hat sich einfach draußen hingesetzt und gesungen.«
    Es war Nyma, die ebenfalls das Mädchen anstarrte. »Als ich sie zum erstenmal hörte, dachte ich, sie würde weinen. Aber sie sagte, nein, sie wolle versuchen, den Yapchi-Gott zurückzurufen, um ihm zu erzählen, daß er nicht ewig blind sein würde. Als sie starb, hat sie mir anvertraut, sie würde den Gott in ihren Gebeten nun für die Lüge um Verzeihung bitten, denn er müsse sich an die Blindheit wohl doch gewöhnen.«
    »Aber jetzt wird alles anders«, sagte Lhandro mit Blick auf Shan. »Jetzt werden diese Leute begreifen, was es mit dem Land auf sich hat.«
    Shan sah ihn verwirrt an. »Diese Leute?«
    »All jene, denen das Verständnis für die Erdgottheiten abhanden gekommen ist.«
    »Ich verstehe nicht, was.«
    »Unser Tal«, unterbrach Lhandro und schaute sehnsüchtig auf die nördlichen Berge. »Es ist voller Chinesen und Ausländer, die unserer Erde das Blut abzapfen wollen.«
    »Blut?« wandte Shan sich hilfesuchend an Nyma.
    »Das Blut der Erde«, sagte Lhandro.
    »Öl«, räumte die Nonne verschüchtert ein und senkte dabei den Blick, als versetze das Wort sie in Angst - oder als sei es ihr peinlich, Shan noch nichts davon erzählt zu haben. »Erst haben sie die Heimstatt der Gottheit zerstört, und nun bohren sie in unserem Tal. Sie sagen, sie werden bald auf Öl stoßen, und dann wird unser ganzes Tal vernichtet.«
    Sie sah ihm flehentlich in die Augen. »Doch jetzt, Shan, jetzt kommst du.«
    Hoffnung erhellte ihre Miene. »Du und die Yapchi - Gottheit werden das Land für uns wieder erneuern. Du wirst dafür sorgen, daß diese Leute weggehen.«

Kapitel 4
    Die Erdkruste unter Tibet ist doppelt so dick wie sonstwo auf diesem Planeten. Shan hatte diese Tatsache zweimal in seinem Leben zu hören bekommen. Zunächst von einem Professor in Peking, der dargelegt hatte, in Tibet würden die tektonischen Platten sich immer weiter aufeinanderschieben, das Land dadurch stetig anheben und so für viele gefährliche und unvorhersehbare seismische Ereignisse sorgen. Doch auch ein alter Lama im Gefängnis hatte mit Shan darüber gesprochen und erklärt, in Tibet würde die Macht der Landgötter sich stärker konzentrieren als an jedem anderen Ort dieser Erde, so daß die

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