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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ihre Vorfahren während der Salzkarawanen gesungen hatten. Als sie am Mittag eine Pause einlegten und kalten tsampa aßen, beschrieben Lhandro und Nyma das wunderschöne Tal, in dem sie lebten. Auch während des langen Marsches am Nachmittag ließ Shan sich von der einfachen und sorglosen Freude der anderen anstecken. Bei Einbruch der Dunkelheit schlugen sie im Schutz eines großen Felsens ihr Lager auf, viele Kilometer nach dem ersten Paß, an dem die Dörfler auf der Hinreise zum See einen Vorrat an Yakdung hinterlassen hatten. Lokesh setzte sich mit dem Gesicht nach Süden, ließ betend die mala durch die Finger gleiten und kniff die Augen zusammen, als würde er jenseits der Berge nach etwas suchen. Der nächste Sonnenaufgang bedeutete den dritten Tag nach Draktes Tod und den Morgen seines Himmelsbegräbnisses. Vielleicht waren sie bereits aus der Einsiedelei aufgebrochen: Gendun, Shopo und Somo, die mit Unterstützung der dropkas den toten purba quer durch das Gebirge trugen.
    Shan ließ sich neben Lokesh nieder, schaute in die gleiche Richtung und bildete mit seinen Fingern ein mudra , eine der traditionellen Arten, ein Ritualsymbol oder eine bestimmte Lehre zum Ausdruck zu bringen. Er streckte beide Hände, so daß die Finger kein Zwischenraum mehr trennte und die Daumen nach oben wiesen. Dann legte er die rechte Hand auf die Spitze des linken Daumens. Man nannte dieses Zeichen Siegesbanner; es stellte den Triumph des Mitgefühls über Ignoranz und Tod dar. Während er dort saß und zunächst das mudra und danach die fernen Berge verinnerlichte, in denen Gendun mit Draktes Leichnam reiste, überkam ihn abermals der Schmerz über den Tod des jungen Tibeters. Nicht nur, weil der purba standhaft, tapfer und selbstlos gewesen war, sondern auch, weil Shans Verwirrung immer stärker zu werden schien. Und je weniger er verstand, desto mehr sorgte er sich um seine Reisegefährten. Gendun würde angemerkt haben, daß Shans Bewußtsein durch seine Gefühle getrübt wurde, denn ein Tod habe niemals einen Grund, nur einen festgesetzten Zeitpunkt, weshalb es Drakte schon immer vorherbestimmt gewesen sei, die gegenwärtige Inkarnation zu der besagten Stunde zu beenden. Indem Shan versuche, in solch einem Tod eine Veranlassung oder einen Sinn zu erkennen, unterstelle er der Welt eine innere Methodik, die in diesem Ausmaß nicht existiere.
    Doch sogar die Tibeter akzeptierten, daß alle Dinge des Universums in einer Wechselbeziehung standen, so daß ein Stein, den man in einen entlegenen See warf, kleine Wellen verursachte und die Konturen der Welt veränderte, wie minimal auch immer. In Lhasa war etwas geschehen, und zwar mehr als ein einfacher Diebstahl, und die Auswirkungen dieses Vorfalls holten nun diejenigen ein, die den chenyi-Stein in ihrem Besitz hatten.
    Shan drehte sich zu den Schafen um, die sich zur Nachtruhe hinlegten. Trotz der Gefahr, trotz der anscheinenden Dringlichkeit, die das Auge umgab, hatten die Verantwortlichen, die Shan und Lokesh in das ferne Tal brachten, sich für die langsamste aller Routen entschieden.
    »Du könntest einfach nein sagen.«
    Die Worte drangen so plötzlich an sein Ohr, daß Shan nachsah, ob jemand sich angeschlichen hatte, bis ihm aufging, daß sie von Lokesh stammten. »Sag ihnen, daß du nicht der Gesuchte bist«, seufzte sein alter Freund, »und mach dich auf den Weg zu dem durtro. Von dort aus kannst du mit Gendun nach Lhadrung zurückkehren. Geh nicht weiter, wenn du Zweifel hast oder wenn du immer nur über die Mörder nachdenkst. Es wäre keine Schande, sich anders zu entscheiden. Ich werde mit dem Salz weiterziehen. Ich gehe ohnehin nach Norden.«
    Shan schwieg lange. Er merkte, daß seine Finger sich zu einem neuen mudra verschränkt hatten, bei dem die beiden Mittelfinger nach oben wiesen und gemeinsam eine Spitze bildeten. Das Zeichen hieß Diamant des Verstands und diente der Klarheit der Entschlußkraft. Zuerst glaubte er, sein Freund wolle ihm erneut helfen, sich auf die Verantwortung für die zerbrochene Gottheit zu konzentrieren, aber dann sah er Lokeshs erwartungsvolles Gesicht. »Du gehst ohnehin nach Norden?« fragte Shan.
    Lokesh nickte feierlich. »Die Gänse letzte Nacht haben mir geholfen, meine Mutter zu finden. Ich habe ihr von der Traurigkeit im Land erzählt und davon, daß die Menschen den Pfad des Mitgefühls verloren haben - und daß wir den chenyi-Stein heimbringen. Sie hat gesagt, was wir hier tun, sei wichtig für all die zerbrochenen Götter. Und

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