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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gebetsamulett. Das war nicht die Reaktion eines Kriegers, der jene verteidigte, die zu schützen er gelobt hatte. Doch auch die andere Hand des purba machte etwas. Shan spielte die Szene wieder und wieder ab. Draktes linke Hand schob den Beutel nach hinten, versteckte den Beutel mit der Schleuder und dem Buch, das die harmlosen Einträge über die dropkas enthielt.
    Shan registrierte ein seltsames An- und Abschwellen der sanften Brise. Dann erkannte er, daß es sich um ein leises, moduliertes Geräusch handelte, ein Stöhnen. Er setzte sich auf. Nein, kein Stöhnen. Ein Singsang, ja sogar ein Lied.
    Langsam und verstohlen folgte er dem Geräusch über einen kleinen Hügel. Ein dunkler Schemen blockierte den Weg. Shan wußte, daß Lhandro eine Wache aufgestellt hatte, aber dann erstarrte er, als er sah, daß es einer der Mastiffs war. Der Hund hob einfach nur den Kopf und blickte zu einem Felsen unterhalb des Hanges, als wolle er Shans Aufmerksamkeit dorthin lenken.
    Anya saß auf den Steinen und betrachtete einen hell funkelnden Stern am Horizont. Das Geräusch, das Shan hörte, wurde nun lauter. Es stammte von ihren Lippen, obgleich er nicht sagen konnte, worum es sich handelte. Es war kein wirkliches Lied, sondern ein Geräusch, wie es manche der alten Lamas von sich gaben, wenn sie in tiefer Meditation ihre Stimmen benutzten. Ein Geräusch, das aus einem Mantra entstand, aber zumindest für das ungeübte Ohr zu einem Widerhall wurde, der sich nicht akustisch, sondern durch irgendeine andere Sinneswahrnehmung mitteilte, ein Klanggebilde, das unmöglich nur durch Zunge und Stimmbänder hervorgerufen wurde.
    Shan hatte dergleichen zuvor schon gehört und einmal auch Lokesh danach gefragt, als sie auf einem hohen Grat einen Einsiedler sitzen sahen, der genau diese leise verzerrte Tonfolge von sich gab. Lokesh hatte die Achseln gezuckt, als sei die Antwort ganz offensichtlich. »Das bleibt übrig, wenn man den Worten das Fleisch wegnimmt«, hatte er in vollem Ernst erklärt. »So klingt ein Geist, wenn er nicht mit Menschen spricht.«
    Shan setzte sich neben das Mädchen und beobachtete die Sterne. Falls sie gerade nicht mit Menschen sprach, wen wollte sie dann erreichen?
    Schließlich erstarb Anyas Stimme. »Wir haben einen langen Weg vor uns«, sagte das Mädchen.
    Obwohl er sich ihr merkwürdig nahe fühlte, hatte sie ihn soeben zum erstenmal direkt angesprochen, begriff Shan. »Bis Yapchi sind es noch fast hundertfünfzig Kilometer«, stellte er ruhig fest.
    »Nein, das meine ich nicht«, sagte das Mädchen langsam und im geduldigen Ton einer Lehrerin. »Bevor du und ich das alte Auge seiner Bestimmung zuführen können, gilt es noch viele Schatten zu erkunden und viele Knoten zu entwirren.«
    Shan dachte kurz darüber nach. »Du und ich?«
    »Als es dies in mir sagte, habe ich es zuerst nicht verstanden«, entgegnete das Mädchen rätselhaft. »Jetzt jedoch glaube ich es.«
    »Bitte verzeih«, sagte Shan. »Wer hat etwas zu dir gesagt?«
    »Ich war in einem Gerstenfeld und habe mit einer Hacke die Erde umgegraben, als es mich zum erstenmal fand. Nyma hat mich zitternd am Boden entdeckt. Es ist erst viermal geschehen. Sie sagen, wenn ich älter bin, wird man mich vielleicht in ein Nonnenkloster bringen müssen, falls man eines finden kann. Sie sagen, früher hätte man mich schon nach dem ersten Mal ins Kloster geschickt.«
    Shan starrte das Mädchen durchdringend an und versuchte, die Puzzlestücke ihrer Äußerung zu einem Bild zusammenzusetzen. Dann fielen ihm Lhandros Worte wieder ein: daß Anya zitternd auf einem Felsen gelegen und sonderbare Schriften rezitiert habe. Und zuvor am See hatte Lhandro gesagt, sie spreche die Worte der Götter.
    »Das Orakel«, flüsterte er. »Du bist das Orakel.«
    Das Mädchen lachte matt auf. »Manche nennen mich so, aber ein Orakel tritt nicht in menschlicher Gestalt auf. Orakelgötter benutzen gewisse Menschen bloß bisweilen als Mittler.«
    Die Worte machten Shan irgendwie traurig. Vielleicht lag es an der Hilflosigkeit, die in Anyas Stimme mitschwang, oder auch daran, daß er an die Geschichten denken mußte, die Mönche ihm über Medien erzählt hatten, welche einst in den großen gompas bei Lhasa zu leben pflegten. Es waren nervöse, häufig schwache Geschöpfe gewesen, die meistens früh starben, denn wenn das Orakel von ihnen Besitz ergriff, erlitten sie schreckliche Anfälle und Krämpfe, die mehrere Tage andauern konnten.
    Anya musterte die Sterne und wandte sich

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