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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gebetsmühle.
    Shan beugte sich über die Frau. »Kn su depo yinbay?« fragte er auf tibetisch. Wie geht es dir?
    »La yin, la yin« , antwortete sie mit schwachem Lächeln. Es geht mir gut.
    Aber es ging ihr gar nicht gut. Ihre Augen waren kränklich gelb verfärbt, und Shan sah, daß sie die Hand mit der khata , dem Gebetsschal, gegen die Seite gepreßt hielt, als verspüre sie Schmerzen im Leib.
    »Sie hat hier gesessen, als ich vorbeigeritten kam«, sagte Dremu, »und schien mich nicht mal zu bemerken. Sie hat einfach nur ständig den Pfad hinuntergestarrt.«
    Er deutete auf einen Weg, der aus Süden über die jenseitige Flanke des Hügels nach oben führte.
    Shan sah nun in die gleiche Richtung.
    »Als würde sie jemanden erwarten.«
    Es war eine einsame, unwirtliche Landschaft. Es konnten Wochen vergehen, ohne daß jemand das kleine Hochgebirgstal betrat, in das die Frau blickte. Hinter sich spürte Shan eine Bewegung. Lokesh tauchte mit besorgter Miene auf und berührte mit ausgestrecktem Arm den Kopf der Frau. Dann nahm er ihre Hand, welche die Gebetskette hielt, und legte ihr drei gespreizte Finger auf die Innenseite des Handgelenks. Shan hatte ihn einmal klagen gehört, wie wenig er - abgesehen von den Jahren bei den Lama-Heilern - über die Behandlung von Kranken wisse, aber Gendun hatte daraufhin erwidert, daß der wichtigste Aspekt der Heilung die moralische Integrität des Heilers sei, und in dieser Hinsicht könne Lokesh durchaus als Experte gelten.
    Nachdem er den Puls der Frau an beiden Handgelenken gefühlt hatte, richtete Lokesh sich auf und hielt ihr seine Fingerspitzen an die Wange. »Wir müssen dich wiederherstellen«, sagte er leise.
    Die Frau sah ihn lange Zeit nachdenklich an, als überlege sie, ob sie ihn kennen müßte, und setzte dann wieder das schwache Lächeln auf. Ihre Hand mit der mala berührte die Gebetsmühle.
    »Komm mit uns«, sagte Lokesh. »Wir können es dir bequem machen.«
    »Bist du wirklich einer der Alten?« fragte sie und musterte ihn dabei immer noch durchdringend.
    Lokesh rieb sich das Kinn mit den weißen Bartstoppeln und sah Shan an, als wisse er nicht, was er antworten sollte. »Wir haben Pferde«, sagte er. »Du könntest auf einem Pferd reiten.«
    Die Frau schirmte mit einer Hand ihre Augen ab und starrte auf Lokeshs Gesicht. Dann lächelte sie abermals gequält und konzentrierte sich wieder auf den Pfad. Es war, als würde sie zwar einen Heiler erwarten, sei aber zu dem Schluß gekommen, daß nicht Lokesh der Gesuchte war.
    »Wie lange bist du schon hier?« fragte Shan.
    Die Frau zuckte die Achseln, ohne den Blick von dem Hang abzuwenden. »Zwei Tage, glaube ich.«
    Sie wandte langsam den Kopf.
    »Kannst du gehen?«
    »Natürlich«, entgegnete sie leicht gereizt und erlitt einen Hustenanfall. »Wie bin ich wohl hergekommen?« fügte sie heiser hinzu, nachdem die Attacke sich gelegt hatte.
    Shan seufzte und warf Lokesh einen enttäuschten Blick zu. »Du müßtest eigentlich einen Schutz gegen die Sonne haben«, sagte er zu der Frau. »Was ist aus deinem Hut geworden?«
    »Der Wind hat ihn sich geholt«, verkündete sie lakonisch und widmete ihre Aufmerksamkeit erneut dem Pfad. Manche Tibeter hielten unerschütterlich an der alten Überzeugung fest, daß es Pech brachte, eine vom Wind fortgewehte Mütze aufzuheben.
    Shan nahm den braunen, breitkrempigen Hut ab, den er während der letzten drei Monate getragen hatte, setzte ihn der Frau auf und zog ihn ihr tief in die Stirn, damit er fest saß. Die Frau hob langsam die Hand und berührte die Krempe, als wolle sie ihn sich wieder vom Kopf reißen.
    »Ein Mönch hat mir diesen Hut gegeben«, sagte Shan. »In der Nähe des heiligen Bergs Kailas. Er hat gesagt, ich sähe aus, als würde ich frieren. Jetzt ist mir nicht mehr kalt.«
    Die gelben Augen der Frau blinzelten ihm wie zum Dank zu, und die Hand sank in ihren Schoß.
    Shan ließ sie mit Lokesh dort, ging an Dremu vorbei, der ihnen weiterhin nervös zusah, und holte von der Karawane einen Beutel tsampa und eine Flasche Wasser. Als er zurückkehrte, schien niemand sich vom Fleck gerührt zu haben, nur daß Lokesh mittlerweile seine Gebetskette hervorgeholt hatte und ein Mantra aufsagte.
    »Wer kommt her?« fragte Shan und legte Nahrung und Wasser zwischen der Frau und dem Felsen ab. »Auf wen wartest du?«
    »Auf den, der alles versteht«, sagte sie in neuem, gelassenem Tonfall. Ihr Blick blieb dabei auf den Pfad gerichtet.
    Shan berührte Lokesh an der Schulter.

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