Das tibetische Orakel
dann unvermittelt wieder Shan zu. »Was ist, wenn das Tal aus irgendeinem Grund verriegelt wurde und das Auge den Schlüssel darstellt? Was ist, wenn wir es öffnen, ohne begriffen zu haben, weshalb es verschlossen wurde?«
»Ich weiß nur eines«, sagte Shan. »Wenn ich eine lange Reise beginne, wird mein Geist oft von Zweifeln geplagt, wohin mein Weg mich führen und was nach dem tausendsten oder zehntausendsten Schritt folgen mag. Also versuche ich, mich immer nur auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, und dann wieder auf den nächsten, so daß schließlich der zehntausendste Schritt auch nur ein weiterer von vielen ist. Bis dahin werden wir alle das Auge besser verstehen.«
Seine Worte überraschten ihn selbst. Er sprach wie die Tibeter, als wäre der chenyi-Stein lebendig.
Das Mädchen nickte lebhaft, als wäre dies genau die Antwort, die sie gebraucht hatte. Der Hund hinter ihr stand auf, und dann erhob auch sie sich und verschwand mit dem Tier in der Dunkelheit.
Shan sah ihr nach und war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas von dem Gespräch verstanden hatte. Es kam ihm so vor, als würde er immer weniger wissen, je mehr er über die Leute aus Yapchi erfuhr. Sie schienen so lange vom Rest der Welt abgeschnitten gewesen zu sein, daß eine argwöhnische, wilde Spiritualität sie befallen hatte. Doch im Herzen spürte er, daß sie sich gar nicht so sehr von den vielen anderen Tibetern unterschieden, die er kannte und die jeweils aus einer Vielzahl von Geheimnissen und Wahrnehmungen bestanden. Das Land selbst war ein dermaßen reichhaltiger, unermeßlich großer Schmelztiegel aus Menschen und Anschauungen, daß der Begriff des Buddhismus für die komplexen Weltsichten der Tibeter oftmals eher unzureichend wirkte.
Ein leises Grollen hallte durch die Nacht. Shan hielt nach Gewitterwolken Ausschau und entdeckte statt dessen vier kleine rote Lichter am klaren Nachthimmel, die mit hoher Geschwindigkeit vorüberrasten. Chinesische Kampf jets auf einem Patrouillenflug. Während er die Flugzeuge beobachtete, wallte ein tiefer Kummer in ihm auf, der sich erst wieder legte, nachdem die Maschinen längst am Horizont verschwunden waren.
Zwei Stunden nach dem Aufbruch der Karawane am nächsten Morgen bemerkte Shan, der ein Packpferd führte, aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Hang. Er blieb stehen und starrte angestrengt hinauf, bis er letztlich einen Mann erkannte, der ungefähr hundert Meter über ihnen mit einem Pferd im Schatten eines großen Felsblocks stand.
Lhandro, der hinter Shan ging, stieß einen schrillen Pfiff aus und ließ die Karawane anhalten. »Verdammter golok« , murmelte er.
Als die Gestalt auf dem Hang hinaus ins Sonnenlicht trat, sah Shan, daß es sich tatsächlich um Dremu handelte, der die Kolonne mit den Augen abzusuchen schien und dann Shan zu sich heranwinkte.
»Nicht«, warnte Lhandro. »Womöglich verstecken sich Freunde von ihm zwischen den Felsen. Ein Kerl wie der wird eben immer ein Bandit bleiben.«
Shan ignorierte die Warnung, behielt jedoch die umliegenden Felsen wachsam im Auge, während er auf den golok zulief. »Ich habe nicht damit gerechnet, dich wiederzusehen«, rief er, sobald er in Hörweite war.
»Ich wurde bezahlt, oder etwa nicht?« gab Dremu mürrisch zurück. »Bezahlt, um euch bis nach Yapchi zu bringen. Nicht, um mit denen da Tee zu trinken«, sagte er und nickte in Richtung der Karawane. »Ich gehe, wohin das Auge geht.«
»Das sind gute Leute«, sagte Shan.
Dremu runzelte die Stirn. »Da ist etwas. Na ja, eigentlich jemand.«
Er warf einen Blick über die Schulter. »Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll«, sagte er leise, als wolle er nicht, daß die rongpas ihn hörten. Er wandte sich um und führte sein Pferd hinter dem Block auf einen Wildpfad, der zum Kamm des niedrigen Hügels anstieg. Shan sah, daß Lokesh soeben den Hang erklomm, und folgte Dremu dann langsam den Pfad entlang. Er holte ihn kurz hinter der Kuppe ein. Der golok kniete neben einem kleinen verkrüppelten Wacholderbaum im Windschatten eines Felsens.
An den Felsen gelehnt saß eine kleine, zerbrechlich wirkende Frau von etwa fünfzig Jahren. Um die Schultern trug sie einen zerlumpten grauen Wollschal, über dem mehrere Halsketten aus Korallen und Türkisen hingen. Aus ihrer häufig geflickten chuba ragten zwei kleine kräftige Hände; eine hielt eine mala umklammert, die andere einen Gebetsschal. Neben ihr auf dem Boden stand auf einem Stück Stoff eine kleine kupferne
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