Das tibetische Orakel
erledigen.«
Die Tibeter am Feuer nickten wissend.
Nyma füllte ihre Schale mit Buttertee, rollte dann drei kleine Butterkugeln und legte sie auf den Rand des Gefäßes. Shan hatte dergleichen schon häufig bei den dropkas beobachtet: Sie legten einige Bissen für die Götter beiseite.
»Tut mir leid«, sagte der Amerikaner. »Ich weiß, es ergibt keinen Sinn.«
Doch Nyma und Lhandro schienen ihm gar nicht mehr zuzuhören. Der rongpa wies mit ausgestrecktem Finger auf etwas. Dreißig Meter aufwärts saß auf einem der Felsen ein grauer Schatten. Ein großer Vogel, der den Lagerplatz beobachtete.
»Das kann doch nicht wahr sein«, murmelte der Amerikaner, doch er starrte den Vogel lange an und wandte sich schließlich verunsichert ab, als könne er nicht entscheiden, ob das Tier ihn anleiten oder heimsuchen wollte.
Shan registrierte eine Bewegung und sah Tenzin mit dem geschulterten Sack unweit des Vogels zwischen den Felsen auftauchen. Über ihm kam eine zweite Gestalt in Sicht, die ein Pferd am Zügel führte und dem stummen Tibeter einen Yakfladen entgegenstreckte. Sie hatten den golok seit dem Dorf nicht mehr zu Gesicht bekommen.
»Er gehört zu Ihnen?« fragte der Amerikaner. »Ich habe ihn oberhalb dieser Ansiedlung gesehen.«
Lhandro sah Shan hilfesuchend an. »Er reist mit derselben Karawane«, sagte Shan und rang noch nach einer passenden Erklärung, als Anya plötzlich dicht ans Feuer trat und sich zwischen Winslow und ihm niederließ. Der Amerikaner reichte ihr seinen Becher, und sie trank gierig, während Shan und Winslow noch einmal den Vogel in Augenschein nahmen.
»Wenn ich recht verstanden habe, sind die Schafe mit Salz beladen«, sagte Winslow nach einigen Minuten zu Shan. »Und ich weiß, daß einige von Ihnen keine Papiere haben. Aber ich habe immer noch keine Ahnung, weshalb Sie hier sind.«
»Die Chinesen haben ihn aus China vertrieben«, erklärte Anya hastig. »Und nun.«
Sie deutete auf die Berge. »Nun muß er hier sein.«
»Er wurde vertrieben?«
Nyma beugte sich vor. »Er ist tätowiert«, flüsterte sie.
»Mein Gott«, murmelte Winslow. »Lao gai.«
Der Amerikaner schien viel über Tibet zu wissen, zumindest über die Rolle der Chinesen im Land. Als er Shan ansah, lag Schmerz in seinem Blick. »Wie lange?«
»Vier Jahre. Nicht so schlimm.«
»Nicht so schlimm? Herrje! Sie haben vier Jahre Zwangsarbeit hinter sich?«
Shan schaute zu Lokesh, der staunend die Sterne betrachtete, die über den Bergen aufstiegen. »Nicht so schlimm wie fünfunddreißig.«
Winslow folgte Shans Blick zu dem grauhaarigen alten Tibeter und öffnete den Mund, doch er brachte lediglich ein leises Stöhnen über die Lippen.
Als Shan den seltsamen Amerikaner erneut musterte, erkannte er an ihm die gleiche Ehrfurcht und Verwirrung, die auch er selbst vor einigen Jahren nach seiner Ankunft in Tibet empfunden hatte. Winslow war kein einfacher Besucher und begegnete dem Land nicht wie ein Ausländer. Tibet zog ihn in sich hinein und veränderte ihn auf die gleiche tiefgreifende und geheimnisvolle Weise, wie es auch Shan verändert hatte. Und niemand - nicht Anya, nicht die Lamas und ganz sicher nicht Shan - vermochte zu sagen, was Winslow sein würde, wenn Tibet mit ihm fertig war.
Am nächsten Morgen boten die Bauern aus Yapchi dem Amerikaner für den steilen Aufstieg ein Pferd an, doch Winslow lehnte ab, reihte sich statt dessen hinter Shan am Ende der Kolonne ein und führte eines der Packpferde am Zügel. Dreißig Minuten lang kämpften sie sich durch dichtes Schneegestöber voran und standen dann plötzlich im strahlenden Sonnenschein, als sie den Paß erreichten.
Während der gefährlichen Passage sprach niemand ein Wort. Links neben ihnen ragte drohend eine sieben Meter hohe Wand aus Eis und Schnee über dem Pfad auf, die im Frühlingswind schon sichtlich an Festigkeit eingebüßt hatte. Rechts befand sich eine nahezu senkrechte Schieferklippe, und in der Mitte des gewundenen Durchgangs rann eisiges Schmelzwasser hinab und verwandelte den Boden in eine lange schmale Rinne aus kaltem Schlamm.
Nachdem sie den Paß bewältigt hatten, wandte Shan sich um und sah, daß der Amerikaner stehengeblieben war und zu der trügerischen Schneewand starrte, die jeden Moment einzustürzen drohte. »Geologen nehmen gelegentlich Sprengungen vor«, merkte Shan an. »Dadurch können Lawinen ausgelöst werden.«
Winslow nickte ernst. »Vor allem die Geologen der Ölfirmen. Es gibt vermutlich tausend Orte wie
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