Das tibetische Orakel
Bedauern.
»Vielleicht könnten Sie uns ja mitteilen, was sich in dieser Tasche befindet«, sagte Shan.
»Sie wollen meine dreckige Unterwäsche? Klar, bedienen Sie sich.«
Dann sah er Shans ernste Miene, und auch Winslows Züge verhärteten sich. »Ich habe für heute genug von diesem chinesischen Scheiß ertragen. Sie stecken ja nicht mal in einer Uniform.«
»Sie sind hier der einzige, der behauptet, für eine Regierung zu arbeiten.«
In diesem Moment kamen die Schafe um den Vorsprung herum, und die Karawane zog an den Felsen vorbei. Gleich darauf erschien Lokesh, dann Nyma und Anya. Verunsichert traten sie näher. Sie spürten die Spannung, die in der Luft lag.
»Sie hatten einen Fahrer und einen Wagen. Wo sind die?« fragte Shan.
»Ich hab sie zurück nach Lhasa geschickt. Der Kerl hat mir nicht gefallen. Wenn unsere Botschaft von der chinesischen Regierung einen Fahrer erbittet, arbeitet der zweifellos für die Öffentliche Sicherheit.«
Shan dachte darüber nach und erkannte, daß der Amerikaner recht hatte. Die Kriecher würden schon bald von dem Zwischenfall im Dorf und der Karawane erfahren.
»Dieser Mann hat uns gerettet«, sagte Nyma leise zu Shan. »Vor allem du müßtest wissen, was uns in der Gewalt dieses Obersts gedroht hätte.«
Die Worte der Nonne veranlaßten Winslow, Shan überaus neugierig zu betrachten.
»Ich habe ihn nur gebeten, uns zu zeigen, was er in seiner Tasche bei sich trägt«, sagte Shan.
»Er ist Amerikaner«, bemerkte Lokesh.
»Er arbeitet für die amerikanische Regierung. Die Regierung in Washington möchte sich gut mit Peking stellen, nicht mit den Tibetern.«
Diese Anmerkung schien Winslow zu schmerzen, aber er widersprach nicht. Statt dessen hob er resignierend beide Hände, nahm eine teuer aussehende Kamera und ein kleines Fernglas aus dem Rucksack und schüttete den restlichen Inhalt auf dem Boden aus. Shan ging in die Hocke und untersuchte die Gegenstände. Eine große Plastiktüte Rosinen. Ein graues, zusammengerolltes Sweatshirt. Eine Schachtel Kekse. Ein kleiner blauer Metallzylinder, der genau wie die Gaspatrone des Kochers aussah. Zweimal Unterwäsche und zwei Paar Socken. Ein halbes Dutzend Schokoriegel. Eine Literflasche Wasser. Ein zerfledderter englischsprachiger Reiseführer über Tibet. Ein winziges Erste-Hilfe-Set. Und ein kleines schwarzes Funksprechgerät.
»Könnten Sie damit Ihren Fahrer erreichen?« fragte Shan und wies auf das Funkgerät.
»Den Fahrer oder die Dienststelle, für die er arbeitet. Auf diese Weise gelange ich wieder zurück.«
»Sie haben gesagt, der Fahrer arbeitet für die Kriecher.«
Winslow verzog das Gesicht.
Shan bemerkte, daß Nyma und Lhandro hinter ihm Schutz gesucht hatten. Sie fürchteten den kleinen schwarzen Kasten.
»Herrje, es ist mein Rettungsanker«, protestierte der Amerikaner. »Glauben Sie etwa, ich wolle irgendwie Ihre Karawane behindern oder Ihnen vielleicht die Tiere stehlen?« fragte er ungehalten und sah Shan und die anderen an. Seine Augen weiteten sich. »Mein Gott, Sie sind Illegale. Deshalb hatten Sie solche Angst vor Oberst Lin. Sie haben keine Papiere oder.«
Der Amerikaner wandte sich zu den Tieren um, die den Hang hinaufzogen. »Oder Sie transportieren etwas Verbotenes.«
Niemand erwiderte etwas, und das war Antwort genug. Der Wind strich heulend um die Felsen. Der kleine Kocher gab immer noch ein leises Zischen von sich. In der Ferne blökten einige Schafe.
Der Amerikaner senkte mit gequälter Miene den Blick. »Die vermißte Frau heißt Melissa Larkin«, erklärte er.
»Alle anderen haben sie anscheinend aufgegeben. Sie ist verschollen. Es würde Sie überraschen, wie viele Amerikaner in Tibet ums Leben kommen. Das Land ist für Ausländer ein teures Reiseziel, das viele sich erst spät leisten können, was bedeutet, daß die meisten Touristen schon älter sind. Dann gibt es die Aussteiger, die noch nie etwas von den Banditen in der Einöde gehört haben und auch nichts von den Erkrankungen, die in den Vereinigten Staaten gar nicht vorkommen. Man kann hier über Nacht an der Höhenkrankheit sterben oder an etwas anderem, das sonst kein Problem wäre, denn der Weg zur nächstgelegenen medizinischen Versorgung ist mitunter sehr weit.«
Er blickte stirnrunzelnd auf. »Es ist Aufgabe der Botschaft, die Toten zum Begräbnis nach Hause zu schicken.«
»Aber die chinesischen Behörden müssen doch sicherlich Hilfe leisten, wenn es um die Bergung ausländischer Toter geht«, stellte Shan mit
Weitere Kostenlose Bücher