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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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diesen, an denen sie bei einem Unfall ums Leben gekommen sein könnte.«
    »Warum war sie allein unterwegs?« fragte Shan und ließ den Blick über die unwirtliche Landschaft schweifen, die hinter ihnen lag. Es gab hier tatsächlich zahllose lebensgefährliche Stellen. Und unzählige Verstecke für einen dobdob oder die Soldaten des Obersts. »Geologen benötigen ein Team zur Unterstützung. Leute, die Proben sammeln und die Ausrüstung tragen. Leute, die Messungen vornehmen. Leute, die andere Leute beobachten«, schloß er und spielte damit auf die Öffentliche Sicherheit an, die sich zweifellos für einen ausländischen Wissenschaftler in diesen Bergen interessieren würde.
    Winslow nickte abermals. »Es waren vier oder fünf. Aber sie hat zwei tibetische Assistenten zu einem acht Kilometer vom Lager entfernten Hang mitgenommen und sie zu einem Berggrat geschickt, den sie durch ihr Fernglas gesehen hatte. Sie sollten dort Gesteinsproben nehmen und sich mit ihr drei Stunden später an einer anderen Stelle treffen. Dort ist sie nicht aufgetaucht. Die beiden sind ins Lager zurückgekehrt, und am nächsten Tag wurde mit einem Hubschrauber nach ihr gesucht, später sogar mit Hunden. Ohne Erfolg.«
    Winslow blickte auf die weite Hochebene, die vor ihnen lag. Auf einmal wies er nach vorn. In der Ferne bewegte sich etwas und kam auf sie zu: ein Reiter im Galopp, der eine Staubfahne hinter sich herzog.
    An der Spitze der Kolonne hob Lhandro die Hand und ließ alle anhalten. Dann sprang er auf einen Felsen, um besser sehen zu können, während die anderen sich besorgt zu seinen Füßen versammelten und auf seinen Bericht warteten. Shan hingegen wußte bereits, wer sich dort näherte: Es war Dremu, und der golok hatte Angst.
    Vor Shan brachte Dremu sein Pferd zum Stehen. »Er ist da draußen«, rief der golok keuchend und schüttelte ungläubig den Kopf. »Es muß wieder dieser Dämon sein.«
    Er streckte die Hand aus und zog Shan hinter sich auf das Pferd, während Lhandro bereits die Ladung des vordersten Packtiers abnahm.
    Sie ritten auf das Plateau hinaus. Shan wußte nicht, wonach er Ausschau halten sollte, und ein Teil von ihm fürchtete, der golok könnte sie in eine Falle gelockt haben. Doch schon nach etwa anderthalb Kilometern blieb das Pferd so abrupt stehen, daß Shan fast den Halt verlor. Da lag jemand auf dem Pfad, ein Mann in einem roten Gewand.
    Shan und Dremu sprangen ab. Dann zog der golok sein langes Messer, umkreiste die Stelle und hielt Wache, und Shan kniete neben dem Mann nieder. Der Mönch lag bäuchlings da und hatte einen Arm nach Süden ausgestreckt. Ein Bein war unter seinem Leib angewinkelt, als sei er gekrochen. Das kurzgeschorene Haar auf seinem Kopf war blutverklebt. Sein offener Mund zeigte zu Boden, und frisches Blut rann in den Staub.

Kapitel   6
    Shan drehte den Mönch um. Er atmete, wenngleich nur sehr schwach. Ein langer Riß in der Robe gab den Blick auf einen grünschwarzen Striemen entlang der Rippen frei. Ein weiterer großer Bluterguß verlief über beinahe den gesamten Unterarm. Seine Hände und Arme wiesen mehrere lange Schnitte und Kratzer mit jeweils einem schmalen Rinnsal aus getrocknetem Blut auf. Andere Verletzungen konnte Shan nicht feststellen. Der Mann war brutal verprügelt, vielleicht sogar ausgepeitscht worden.
    Als Shan seinen Mantel auszog und über den Mönch breitete, trafen Lhandro und Lokesh auf dem Rücken eines zweiten Pferdes ein.
    »Ein heiliger Mann!« rief Lhandro überrascht.
    Lokesh hockte sich neben den Verwundeten, nahm mit drei Fingern an dessen linkem Handgelenk den Puls und berührte dann den Hals des Mannes. »Sein Körper hat einen sehr heftigen Schock erlitten«, erklärte er kurz darauf. »Viele brutale Schläge. Aber er ist jung, und sein Blut ist stark.«
    »Wer ist er?« fragte Lhandro beunruhigt, ging dann um den Mann herum und suchte die Landschaft ab. »Was hat ein Mönch hier oben verloren?«
    Shan hob die rechte Hand des Mannes. An seinen Fingern klebte schwarzer Schmutz, ebenso am unteren Teil seines Gewands. Shan strich über eine der Stellen und rieb Finger und Daumen aneinander. Es war Ruß. Aber es gab hier kein Feuer. Und es waren keine anderen Mönche hier, kein Minibus des Büros für Religiöse Angelegenheiten, überhaupt kein Fahrzeug, nicht einmal ein Pferd. Der Mönch mußte sich in die Einsamkeit zurückgezogen oder sich womöglich auf einer Pilgerreise befunden haben.
    Lokesh brachte eine Flasche Wasser zum Vorschein und

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