Das tibetische Orakel
einem durchdringenden Blick auf den Amerikaner fest.
Winslow beugte sich vor und drehte einen Knopf an dem Kocher. Das Zischen hörte auf. »Diese Larkin ist ein Sonderfall. Fünfunddreißig Jahre alt. Eine Wissenschaftlerin. Geologin, Seismologin. Hat in der Nordsee, Alaska und Patagonien gearbeitet. Sie kann auf sich aufpassen.«
»Sie war aus beruflichen Gründen in Tibet?«
»Während des letzten Jahres, in der alten Region Amdo«, bestätigte Winslow. »Heutzutage der südliche Teil der Provinz Qinghai, gleich jenseits der Grenze zur ART«, sagte er und meinte damit die Autonome Region Tibet, Pekings irreführende Bezeichnung für die einstigen tibetischen Zentralprovinzen.
»Eine Lawine, ein Erdrutsch, Banditen«, sagte Shan. »Auch wenn sie eine selbständige Person war, kann sie doch trotzdem Pech gehabt haben.«
»Ja, das sagen alle. Ich mußte meinen Chef lange überreden, um überhaupt erst nach ihr suchen zu dürfen.«
Winslow klang seltsam trotzig. »Ich habe zwei Wochen, dann geht's für mich zu einer Konferenz nach Shanghai.«
Niemand sagte etwas. Shan und Lhandro sahen sich bekümmert an, und Shan wußte, daß der Tibeter und er in diesem Moment das gleiche dachten. Sie waren in einer Welt aufgewachsen, in der andauernd Menschen verschwanden und fast keiner Familie ein solch schmerzlicher Verlust erspart blieb. Leute gingen in die Berge und kehrten nie zurück. Andere wurden ohne Vorwarnung oder Erklärung ins Gefängnis gezerrt, und wenn man sie irgendwann aus der Haft entließ, war keiner ihrer früheren Bekannten oder Angehörigen mehr da. Auch Shan gehörte zu den spurlos Verschwundenen, wenngleich er bezweifelte, daß seine frühere Frau oder sogar sein Sohn sich deswegen Gedanken machten; die beiden würden lieber davon ausgehen, daß er tot war. Shans Gefährten starrten alle den Amerikaner an. Winslow kam wirklich aus einer völlig anderen Welt.
Über ihnen war mittlerweile die komplette Karawane aufgetaucht, die auf einem gewundenen Pfad den Hang erklomm.
»Ich kenne mich in diesen Bergen nicht aus«, sagte Winslow leiser und mit einem bittenden Unterton. »Ich brauche jemanden, der mir den Weg hinein zeigt, damit ich keine Zeit mit der Suche danach verschwenden muß.«
Noch immer sprach keiner der anderen ein Wort. Da seufzte der Amerikaner auf und gab Shan das Funkgerät. Shan hielt es einen Moment lang und legte es dann auf einen flachen Felsen, während Winslow ihn verunsichert beobachtete. Die Tibeter wichen langsam zurück. Shan nahm einen großen Stein, hob ihn hoch über den Kopf und ließ ihn auf das Gerät hinabsausen. Nyma schrie überrascht auf. Er schlug dreimal zu, bis das Gehäuse zerbarst und die Bruchstücke der Leiterplatte und der Verdrahtung in den Staub fielen.
»Verdammt«, knurrte der Amerikaner. »Sie hätten einfach nur die Batterie herausnehmen können.«
Shan ignorierte ihn, sammelte schweigend die Überreste des Funkgeräts auf und warf sie in eine schmale Felsspalte. »Etwas verstehe ich immer noch nicht«, sagte er und drehte sich zu dem Amerikaner um. »Wieso gerade dieser Paß? Die Frau könnte überall im Gebirge stecken.«
Winslow starrte das Loch an, in dem soeben sein Funkgerät verschwunden war, und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich an Shan. »Ich habe sie vier Tage lang rund um ihr Basislager im Norden gesucht und nichts gefunden. Außerdem hatte ihre Firma dort schon mehrere Suchtrupps losgeschickt. Also wollte ich mich aus Süden an die Gegend heranarbeiten, aber ich wußte nicht, wo ich anfangen sollte. Nachdem ich heute diesen Yak getroffen hatte, habe ich meinen Fahrer unten auf der Straße anhalten lassen, um mir die Karte noch einmal anzusehen.«
Der Amerikaner zögerte kurz und strich sich mit verlegener Geste das Haar aus der Stirn. »Während ich noch damit beschäftigt war, ist auf einem nahen Felsen ein großer Vogel gelandet. Er sah aus wie ein Birkhuhn mit viel weißem Gefieder und hat mich angestarrt. Ich bin auf ihn zugegangen. Er hat mich nicht aus den Augen gelassen und ist zu einem anderen Felsen geflogen, ein kleines Stück den Pfad hinauf.«
Winslow zuckte die Achseln und blickte verschämt auf. »Als würde dort etwas auf mich warten.«
Lokesh nickte feierlich. Shan sah den Mann nachdenklich an. Der Amerikaner hatte nur den Yak erwähnt, nicht das Zusammentreffen mit Oberst Lin.
»Ein Vogel«, flüsterte Nyma ernst und an niemand Bestimmten gewandt.
»Wo genau liegt dieses Basislager?« fragte Shan. »Wie
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