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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weit im Norden?«
    »In einem der Täler, in denen sie Bohrungen durchführen. Es gibt einen Berg namens Geladaintong, aus dem der Oberlauf des Jangtse entspringt. Der Ort, den ich meine, liegt rund dreißig Kilometer westlich von dort, in den Ausläufern eines anderen großen Berges. Er heißt Tal von Yapchi.«
    Lhandro keuchte verblüfft auf, und Lokesh nickte, als ergäbe das alles einen perfekten Sinn.
    Winslow war sichtlich verwirrt, und Shan ließ die Vorfälle im Dorf noch einmal Revue passieren. Der Amerikaner war zwischen den Felsen aufgetaucht, nachdem der Oberst und Lhandro von Yapchi gesprochen hatten. Er konnte nichts von der Unterredung mitbekommen haben.
    »Das Ölprojekt«, sagte Shan.
    »Richtig. Sie arbeitet dort.«
    Shan seufzte und sah in die erwartungsvollen Mienen seiner Begleiter. Die Sache war entschieden. Die Tibeter würden sich nun nicht mehr davon abbringen lassen, daß es ihnen allen vorherbestimmt war, gemeinsam weiterzureisen. Shan kniete sich hin und half Winslow, die Sachen wieder einzupacken.
    In jener Nacht schlugen sie ihr Lager unterhalb des Passes zwischen einigen Felsen auf. Es wehte ein ständiger Wind, und sie mußten erst eine niedrige Schutzwand aus Steinen errichten, bevor sie ein Feuer entzünden konnten. Der Amerikaner bot an, das Essen auf seinem kleinen Kocher zuzubereiten, doch Nyma wies wortlos auf eine Gestalt, die den Hang über ihnen absuchte. Tenzin konnte noch immer keinen Tag beenden, ohne Dung gesammelt zu haben.
    »Er muß etwas sehr Schlimmes getan haben«, hatte Lhandro gesagt, als er Tenzin und dessen Sack zum erstenmal sah, und einen wissenden Blick mit Shan ausgetauscht. Auch der rongpa war sogleich zu der Vermutung gelangt, daß Tenzin Buße tat. Shan mußte an Tenzins merkwürdiges Benehmen während des Hagelschauers und später am See denken. Drakte hatte ihn aus dem Gefängnis befreit, und er ging nach Norden, weil jemand gestorben war.
    Winslow betrachtete die stille gebeugte Gestalt mit staunender Miene. »Ich glaube«, murmelte er leise auf englisch vor sich hin, »ein Cowboy könnte kein Cowboy sein, wenn er jeden Abend Kuhscheiße auflesen müßte.«
    »Man bleibt sehr erdnah«, sagte Shan in derselben Sprache.
    Der Amerikaner sah ihn überrascht an. »Ihr Englisch ist gut.«
    »Mein Vater hat es mir vor seinem Tod beigebracht.«
    Winslow musterte ihn, als ahne er eine Geschichte hinter Shans Worten. »Ich sehe meinen Vogel gar nicht«, sagte er mit Blick auf den Hang und wechselte zurück in die tibetische Sprache. »Bevor ich nach Tibet gekommen bin, habe ich nie an Zeichen geglaubt. Die ersten paar Male war nichts weiter los. Ich habe am Flughafen den Sarg eines ehemaligen Gouverneurs abgeholt, der auf den Stufen des Potala einen Herzinfarkt erlitten hatte. Beim zweitenmal bin ich nur kurz in Lhasa gewesen, weil ein Bergsteiger an der Höhenkrankheit gestorben war. Die dritte Fahrt jedoch hat mich nach Shigatse geführt, und ich ließ den Fahrer unterwegs einen Mönch mitnehmen, der am Straßenrand stand.«
    Winslow hielt inne und merkte, daß die anderen sich um das Feuer versammelt hatten und ihm zuhörten. »Eine Stunde später ließ ich ihn noch mal anhalten. Ich bin ausgestiegen, ohne so recht den Grund dafür zu begreifen, und habe diesen hohen Hügel angestarrt. Es war kein richtiger Berg, aber trotzdem ziemlich hoch und steil, nur Felsen und Heidekraut. Ich mußte nach oben klettern. Ich weiß bis heute nicht, wieso - es war wie in einem Traum. Hinterher dachte ich, es hätte vielleicht an den Medikamenten gelegen, die ich einnahm. Jedenfalls ging ich einfach los. Es hat fast eine Stunde gedauert, bis ich oben war.«
    »Was war dort?« fragte Nyma.
    »Nichts. Rein gar nichts. Bloß ein altes Stück Stoff, das unter einem Felsen klemmte. Ein altes quadratisches Seidentuch mit einer tibetischen Aufschrift. Damals wußte ich noch nicht mal, daß es eines dieser Windpferde war, eine Gebetsfahne. Aber ich habe sie aus dem Spalt gezogen, so daß sie im Wind flattern konnte. Dann habe ich einen Stein genommen, einen kleinen roten Stein, und ihn aus irgendeinem Grund weit hinaus auf den Hang geschleudert. Ich hatte nur plötzlich den Eindruck, daß der Stein nicht dorthin gehörte und geworfen werden mußte. Als ich später wieder beim Wagen ankam, habe ich den beiden Tibetern davon erzählt. Der Mönch hat genickt und gesagt, es habe getan werden müssen. Und dann hat er sich bei mir bedankt, daß ich nach Tibet gekommen sei, um dies zu

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