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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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säuberte vorsichtig das Gesicht des Mannes. Dabei redete er sanft auf ihn ein, versicherte ihm zunächst, er sei nun unter Freunden, und richtete dann ein Mantra an den Mitfühlenden Buddha. Lhandro suchte sich eine freie Stelle am Boden und errichtete dort einen Kreis aus Steinen. Er würde tun, was Shan bei Hirten und rongpas stets beobachtet hatte, wenn jemand verletzt war: Er würde ein Feuer entfachen und Buttertee zubereiten.
    Als Shan sich auf die andere Seite des reglosen Mönchs kniete, schlug der Mann plötzlich die Augen auf und riß seine Hand von Lokesh los. »Ihr werdet Waffen brauchen! Ihr könnt dieses Ding nur mit Waffen aufhalten!« stöhnte er. Argwöhnisch betrachtete er Lokesh, als versuche der Mönch zu erkennen, wer oder was der alte Tibeter war. Dann verlor er wieder das Bewußtsein.
    Wenig später traf die Karawane ein. Die Leute aus Yapchi liefen sofort zu dem Fremden, tuschelten aufgeregt und waren verwirrt und ängstlich zugleich. Schon seit vielen Jahren sei kein Mönch mehr in ihr Tal gekommen, hatte Lhandro erzählt. Tenzin nahm den Sack mit Brennstoff vom Rücken eines der Pferde und half Lhandro, in dem Steinkreis ein Feuer zu entzünden. Der Amerikaner zog das Sweatshirt aus seinem Rucksack, faltete daraus ein Kissen für den Verletzten und stellte danach sein Erste-Hilfe-Set zur Verfügung, aus dem Lokesh kleine Stücke steriler Gaze entnahm, um damit die schlimmsten Wunden abzutupfen.
    Shan kletterte auf einen flachen Felsblock und suchte mit dem Fernglas die Hochebene ab. Das Land schien überraschend fruchtbar zu sein, denn er sah ausgedehnte Frühlingswiesen, deren Pflanzen ihm zum Teil völlig unbekannt waren. Auch nach sorgfältiger Inspektion konnte er keine Menschenseele entdecken. Dann widmete er sich dem nordwestlichen Teil des Plateaus und damit der Richtung, aus welcher der Mönch gekommen zu sein schien. Einen Moment lang glaubte er in der Ferne einen Rauchfetzen wahrzunehmen, doch gleich darauf war nichts mehr zu sehen.
    »Was für ein Mistkerl ist zu so etwas fähig?« fragte eine tiefe Stimme neben ihm. »Ein harmloser Mönch.«
    Winslow schaute durch sein kleines Fernglas in dieselbe Richtung wie zuvor Shan.
    »Mir war so, als hätte ich Rauch gesehen«, sagte Shan.
    »Rauch?«
    »Der Mönch hat Ruß an Händen und Kleidung.«
    Shan drehte sich wieder zu der Karawane um. Man packte soeben Pfanne, Kessel und Butterfaß aus. Lhandro hatte beschlossen, die Mittagsrast ein wenig vorzuziehen, damit sie tsampa kochen und die Verschnürung der Salzbeutel überprüfen konnten. Shan sah Winslow an und deutete auf die beiden Packpferde, die von ihrer Last befreit worden waren und nun friedlich grasten.
    »Falls der Mönch nicht zu Kräften kommt, werden wir hier übernachten«, sagte Lhandro, als er Shan und den Amerikaner mit den Pferden aufbrechen sah. »Sollten wir bei eurer Rückkehr nicht mehr hier sein, reitet zu dem Wacholderhain am anderen Ende.«
    Er wies zu dem Berggrat, der in ungefähr fünfzehn Kilometern Entfernung die Nordostflanke der Ebene begrenzte. »Auf der anderen Seite liegt die Ruine eines gompa und bietet besseren Schutz.«
    Shan und Winslow trabten nebeneinander durch das rauhe Gelände und hielten an, als sie abseits des am Morgen überquerten Passes eine Bewegung bemerkten. Gleich darauf erkannten sie durch ihre Ferngläser, daß es sich nur um eine Schar Ziegen handelte. Als sie weiterreiten wollten, hob Winslow die Hand. Hinter ihnen näherte sich lautes Hufgetrappel. Dremu steuerte genau auf sie zu.
    »Du mußt dabei vorsichtig sein«, knurrte der golok tadelnd, als er sein Pferd vor Shan zum Stehen brachte.
    »Dabei?« fragte Winslow.
    Dremu runzelte die Stirn. »Sucht ihr nach dem Feuer?«
    »Hast du denn ein Feuer gesehen?« fragte Shan.
    »Nein, aber ich hab's gerochen. Weder Yakdung noch Holz.«
    Er ließ sein Pferd in Richtung Nordwesten antraben.
    Eine Viertelstunde später stiegen Shan und Winslow hinter ihm ab. Dremu stand am Rand einer flachen Mulde von etwa fünfzig Metern Durchmesser, in der ein niedriger, von Flechte überwucherter Steinhaufen aufragte. Die Senke unterschied sich vom umliegenden Gelände, weil sie gleichmäßig von graugrünen, etwa fünfundzwanzig Zentimeter hohen Pflanzen bewachsen war, die Shan noch nirgendwo sonst auf der Ebene gesehen hatte. Die Hälfte der Vertiefung war geschwärzt und der Bewuchs dort verbrannt. Ein durchdringender Geruch, süßlich und beißend zugleich, hing in der Luft.
    »Wieso hat es

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