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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und in einen Fluß gestürzt. Erst nach zwei Tagen konnte man ihre Leiche bergen. Der Gerichtsmediziner rief an und fragte mich, ob ich gewußt hätte, daß sie im zweiten Monat schwanger war.«
    Winslow sah einem Falken hinterher. »Ich wußte es zunächst nicht, aber mittlerweile war ich im Haus gewesen. Sie hatte Möbel für ein Kinderzimmer gekauft und zahllose Ballons daran festgebunden, um mich damit zu überraschen.«
    Shan musterte das Gesicht des Amerikaners. Winslow wirkte ganz anders als der überschwengliche Reiter, den er am Vortag auf dem Yak gesehen hatte.
    »Ich konnte nirgendwohin, hatte keine Wurzeln, keine lebenden Angehörigen. Also bin ich hierher zurückgekehrt und habe freiwillig jeden Drecksauftrag übernommen, den sonst keiner wollte. Bloß um wegzukommen. Ich hab all die Leichen für den Rücktransport eingesammelt. Und hinter den Pudeln des Botschafters saubergemacht.«
    Shan verspürte ein Gefühl der Leere. Aus irgendeinem Grund erinnerten die Worte des Amerikaners ihn an seinen Vater, der von den Roten Garden ermordet worden war. Zuvor jedoch hatten sie ihm die geliebte Tätigkeit als Professor genommen, weil er westliche Geschichte lehrte und Freunde in Europa und Amerika besaß.
    »Man hätte die alte Frau nicht dafür einsperren dürfen, daß sie den Waisenkindern half«, sagte Winslow mit heiserer Stimme.
    »Was ist aus ihr geworden?«
    »Sie ist in diesem Gefängnis gestorben, und man hat ihrer Familie sogar eine Rechnung für ihre Einäscherung geschickt.«
    Shan starrte in das eingefallene Gesicht des Amerikaners. Winslows Leid hatte mit einer Regierungsanstellung in Peking begonnen. Alles im Leben hing miteinander zusammen, sagte Lokesh gern.
    »Dennoch«, wandte Shan ein. »Sie sind hergekommen, ohne daß es eine Leiche abzuholen gäbe.«
    Winslow lächelte wehmütig. »Ich habe meinen Boß angelogen. Nach Larkins Verschwinden hatte die Ölfirma uns ihre Personalakte geschickt. Wir sind davon ausgegangen, daß es früher oder später eine Leiche geben würde, nur eben anfangs noch nicht. Ich habe die Akte gelesen. Larkin ist genauso alt wie meine Frau. Sie war mit einem anderen Geologen verlobt, der vor vier Jahren in den Anden durch eine Lawine getötet wurde. Danach hat sie um die Versetzung in eine möglichst entlegene Gegend gebeten.«
    »Demnach haben Sie.«
    Shan suchte nach den passenden Worten. »Lokesh würde vielleicht sagen, daß Sie beide auf ähnlichen Bewusstseinspfaden gewandelt sind.«
    Winslows trauriges Lächeln kehrte zurück. »Ich habe behauptet, ihre Leiche sei in den Bergen gesichtet worden. Genaugenommen ist es nur eine kleine Lüge, denn am Ende hätte man sowieso mich geschickt.«
    Sie saßen da und beobachteten, wie der Wind über das Frühlingsgras auf dem Plateau strich. Schließlich seufzte Shan und stand auf. »Ich habe dieses Geräusch auch schon gehört: Das Land spricht, und es klingt wie ein Stöhnen. Ein Lama hat mir erzählt, dies geschehe manchmal, wenn die Erde die eigene Vergänglichkeit begreife. Sie stöhnt einfach.«
    In diesem Moment mußte Shan seltsamerweise an weiße Sandkörner denken, die ihm durch die Finger rieselten. Er sehnte sich nach Genduns Gesellschaft oder zumindest nach dem Wissen um seine Sicherheit.
    Wie aufs Stichwort fing das Land an zu grollen. Der Donner hallte in drei sich überschneidenden Schlägen aus der Ferne heran. Das Geräusch schien von dem riesigen schneebedeckten Berg auf der anderen Seite der Ebene zu stammen, hinter dem das Tal von Yapchi lag. Doch der Himmel war wolkenlos.
    Kaum war der Laut verklungen, trat ein schriller tibetischer Wortschwall an seine Stelle. Winslow deutete auf einen Felsausläufer sechzig Meter unter ihnen. Dort stand Dremu mit erhobenem Messer und drohte in Richtung des Plateaus, als würde er auf das merkwürdige Donnern reagieren.
    Shan konnte nicht verstehen, was der golok sagte, doch der Klang seiner Stimme war unverkennbar. Zuerst Wut, dann ein Anflug von Angst und am Ende so etwas wie Verzweiflung. Shan verließ den Vorsprung, auf dem sie standen, und begann mit dem Abstieg.
    Als sie Dremu erreichten, hatte der golok sich niedergelassen und warf Steine in Richtung der nördlichen Berge. Beim ersten Geräusch fuhr er herum und sah dann verlegen zu den Pferden. »In Ordnung, wir können aufbrechen. Lhandro bringt den Mönch zum Wasser dort bei den Bäumen«, sagte er und zielte mit einem Stein auf einige Blechdosen im Schatten des Felsens. »Die habe ich weiter oben an

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