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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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den Bergen miteinander unterhalten.«
    Shan erwiderte nichts, sondern betrachtete die Gegend; zunächst noch einmal die Ebene, dann die nähere Umgebung. Er fühlte sich weiterhin beobachtet.
    Nach langem Schweigen seufzte der Amerikaner. »Sie trauen mir nicht, Shan, oder?«
    »Ich glaube nicht, daß Sie sind, was Sie zu sein vorgeben.«
    »Rufen Sie in der Botschaft an. Oder in Washington. Lassen Sie sich von denen meinen Paß bestätigen.«
    »Ich weiß, wie es ist, für eine Regierung zu arbeiten. Im diplomatischen Dienst wird man turnusgemäß befördert. Sie müßten sich ungefähr auf halber Strecke Ihrer Laufbahn befinden.«
    »Richtig.«
    »Und dann schickt man Sie, um tote Amerikaner einzusammeln? Einen solche Auftrag würde man allenfalls einem absoluten Neuling aufbürden.«
    Winslow entgegnete nichts.
    »Und die Suche nach einer Vermißten ist Aufgabe der Polizei. Ihre Regierung würde die Pekinger Behörden um Hilfe bitten. Sie behaupten, Sie seien wegen der Leiche dieser Frau hier, aber es gibt keine Leiche.«
    Winslow starrte schweigend auf die Ebene. »Ich schätze, man könnte sagen, nach den Maßstäben des diplomatischen Diensts wurde ich als niedere Lebensform wiedergeboren.«
    Er nahm einen Kiesel, warf ihn von einer Hand in die andere und sah stirnrunzelnd wieder Shan an. »Vor zwei Jahren war ich stellvertretender Handelsattache in Peking und mit einer Kollegin verlobt, die für unser Kulturreferat gearbeitet hat. Ich war schon immer recht sprachbegabt und habe schnell Karriere gemacht, weil bei uns niemand außer mir alle maßgeblichen Dialekte Chinas beherrschte. Meine Wohnung lag außerhalb des Botschaftsgeländes. Eine Chinesin hat bei mir saubergemacht. Sie war über sechzig und ein wahrer Schatz. Wie die liebe alte Großmutter, die ich nie hatte. Nachdem wir sie ein Jahr kannten, sind meine Verlobte und ich manchmal bei ihr zu Besuch gewesen oder haben mit ihrer Familie Ausflüge zu den Ming-Gräbern oder dem Sommerpalast unternommen. Nach einer Weile fiel uns auf, daß sie kaum etwas von den mitgebrachten Speisen aß und uns stets fragte, ob wir etwas dagegen hätten, wenn sie ihren Teil mitnehmen würde. Schließlich bekamen wir heraus, daß sie es den Waisenkindern einer Schule brachte. Geleitet wurde die Schule von einer dieser religiösen Gruppen, die der Regierung ein solcher Dorn im Auge sind. Ihnen waren alle Gelder gestrichen worden, weil die Gruppe öffentlich für Religionsfreiheit demonstriert hatte, und so mußten die Kinder von zwei Schalen Reis am Tag leben. Eines Tages kam die alte Frau nicht zur Arbeit, und ich fand heraus, daß man sie und alle Lehrer der Schule verhaftet hatte. Ich brauchte eine Woche, bis ich sie endlich in einem der Gefängnisse ausfindig machen konnte. Um sie dazu zu bringen, sich von ihrem Glauben loszusagen, hatte man sie zusammengeschlagen und ihr dabei einen Milzriß zugefügt.«
    Als der Amerikaner Shan ansah, lag Schmerz in seinem Blick. »Ich war nie ein besonders gläubiger Mensch, aber die Leute haben ein Recht darauf, ihren Gott finden und auf eigene Weise verehren zu dürfen. So hat meine Verlobte das ausgedrückt«, sagte er leise und starrte seine Hände an.
    Shan nickte. Letztlich wollten auch die Tibeter nichts anderes.
    »Ich habe meinen Diplomatenstatus genutzt, um das Justizministerium aufzusuchen. Dort habe ich Nachforschungen über die Frau angestellt und um ihre Freilassung gebeten. Das Ministerium hat daraufhin den Botschafter verständigt, und der Botschafter hat mir die Streifen abgerissen und den Säbel zerbrochen.«
    »Wie bitte?«
    »Er hat mich fast gefeuert. Ich sei nicht befugt gewesen, derartige Erkundigungen einzuziehen, denn die Vereinigten Staaten würden sich nicht in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen. Er hat gesagt, für den Rest meiner Karriere dürfe ich höchstens noch die Klos der Botschaft putzen. Also haben meine Verlobte und ich beschlossen, unsere Kündigungen einzureichen. Sie flog voraus und fand eine Anstellung als Dozentin in Colorado. Ich nahm Urlaub, heiratete sie und kaufte dort ein Haus mit ihr. Zwei Monate später hatte ich ein Vorstellungsgespräch an derselben Universität.«
    »Aber Sie haben nicht gekündigt«, stellte Shan fest.
    »Nein«, sagte Winslow und schaute wieder auf das Plateau hinaus. »Es war Winter, und es gab einen heftigen Schneesturm. Unser Haus lag oben in den Bergen. Sie wollte mich vom Flughafen abholen. Unterwegs ist sie mit dem Wagen von der Straße abgekommen

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