Das tibetische Orakel
wurde immer schneller und lief am Ende auf das Zentrum der Anlage zu, wobei sich ihm ein Geräusch entrang, das wie ein Schluchzen klang.
Er bewegte sich auf merkwürdige Weise vorwärts, wurde mehrmals langsamer, sah sich um, wandte sich nach links, dann nach rechts, nahm wieder Tempo auf und blieb einmal sogar stehen, um sich hinzuhocken, eine Handvoll der sandigen Erde aufzuheben und verzweifelt zu beobachten, wie die Krümel ihm durch die Finger rannen, bevor er die Hand wieder senkte und den Boden berührte. An einigen Stellen, an denen Lokesh die Richtung wechselte, erkannte Shan eine schmale Steinlinie, die an ehemalige Fundamente erinnerte. Meistens jedoch sah der Boden dort völlig unscheinbar aus, wenngleich Lokesh etwas anderes wahrzunehmen schien. Es war, als würde er die früheren Gebäude sehen und umrunden.
Auf einmal blieb der alte Tibeter stehen und ließ sich mit übergeschlagenen Beinen auf dem Boden nieder. Er befand sich nahe am Hang und jenseits der Mitte des Ruinenfelds. Shan wollte sich ihm anschließen, doch dann kam bei den fernen Gebäuden eine Gestalt zum Vorschein und lief gemeinsam mit dem Jungen hastig auf die Neuankömmlinge zu.
»Der Bewahrer«, verkündete Lhandro mit hörbarer Erleichterung. »Er wird uns helfen. Er wird dem Mönch helfen.«
Der rongpa ging dem Mann entgegen und traf in etwa dreißig Metern Entfernung mit ihm zusammen. Gemeinsam liefen sie dann zu dem verletzten Mönch, der mittlerweile auf einer Decke am Bachufer lag.
Shan ging zwischen den Ruinen umher und folgte einer Steinreihe, bis er in der Nähe des Zentrums vor zwei flachen länglichen Hügeln stehenblieb. Man hatte auf jedem einen kleinen Steinhaufen errichtet und entlang des Randes Steine mit tibetischen Aufschriften ausgelegt, manche davon eingeritzt, andere aufgemalt. Sie enthielten die Anrufung des Mitfühlenden Buddhas: Om manipadme hum. Man nannte sie mani-Steine. In Shan stieg tiefe Traurigkeit auf. Zwischen den beiden Hügeln befand sich ein Quadrat von etwa zweieinhalb Metern Seitenlänge und einem Meter Höhe aus Steinen und Mörtel. Jemand baute hier einen chorten , einen der siebenstöckigen Schreine mit ballonförmiger Kuppel und Spitze, mit denen häufig heilige Reliquien bezeichnet wurden. Wie viele mochte es hier gegeben haben? fragte sich Shan. Wie viele Mönche waren in einem so großen gompa gewesen? Ungefähr dreihundert. Vielleicht sogar bis zu fünfhundert.
Er fühlte sich schwach und setzte sich vor die Hügel. Den rechten Arm legte er unwillkürlich auf das Knie, so daß die Handfläche und die ausgestreckten Finger zu Boden wiesen. Es war ein mudra , mit dem die Erde als Zeuge angerufen wurde.
Als er letztlich wieder aufstand, sah er, daß Lokesh sich nicht gerührt hatte. Shan ging zu seinem Freund und ließ sich neben ihm nieder. Lokeshs Hände waren ebenfalls zu einem mudra vereint: Beide Daumen und Zeigefinger berührten sich und bildeten einen Kreis; alle anderen Finger zeigten nach oben. Shan war verwirrt. Dies war das dharmachakra , das mudra des drehenden Rades, mit dem die Lamas die Einheit von Weisheit und Taten beschworen: das Ziel der buddhistischen Lehre.
»Ich wußte es nicht«, sagte Lokesh nach einigen Minuten und mit zittriger Stimme. »Niemand hat unterwegs den Namen dieses Ortes erwähnt. Wir sind in Rapjung gompa, und diese Hochebene ist heilig. Man nennt sie Metoktang.«
Das hieß Ebene der Blumen.
»Du warst schon mal hier?«
Lokesh nickte. »Ich habe es nicht wiedererkannt. Wie auch nach allem, was sie angerichtet haben?«
Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich bin sonst immer aus Süden gekommen, nicht wie diesmal aus Westen. Es gab hier so viele Gebäude, wunderschöne Gebäude. Und die Hänge waren damals voller Bäume. Ich habe gehört, die Chinesen hätten die Wälder abgeholzt. Aber doch nicht so. Außer diesem kleinen Wacholderhain ist kein Zweig mehr übrig.«
»Warst du im Auftrag der Regierung hier?« fragte Shan.
»Nein, noch davor. Rapjung war berühmt für seine Lama-Heiler«, sagte Lokesh und mußte erneut um Fassung ringen. »Nicht bloß Ärzte, sondern Heilgelehrte, die zunächst ihr Bewußtsein in Buddha gefunden und dann ihr Leben der Erforschung dessen gewidmet hatten, was die Gesundheit des Menschen mit der Natur um ihn verbindet. Diese Hochebene besitzt große spirituelle Kraft. Die Schüler kamen aus ganz Tibet hierher, aus Nepal und sogar aus Indien, um Kräuterkunde und das Mischen von Arzneien zu lernen. Es gab
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