Das tibetische Orakel
Widerstandskämpfer versteckt haben. Sogar die Mönche kamen nach draußen und stiegen auf die Mauern, als seien sie neugierig darauf, wie weit in die Berge die Kanonen feuern würden. Aber die Soldaten richteten ihre Geschütze auf das gompa. Es gab keine Warnung, sie fingen einfach an zu schießen. Andere stellten Maschinengewehre auf und eröffneten ebenfalls das Feuer. Es war wie in einem Krieg, nur daß niemand Gegenwehr leistete. Manche der alten Gebäude hatten Keller oder Tempelräume, die man unter ihnen aus dem Fels gehöhlt hatte. Es dauerte zwei Tage, bis die Soldaten beschlossen, nun könne auch dort unten niemand mehr am Leben sein. Dann verpflichteten die Chinesen in meilenweitem Umkreis alle zur Zwangsarbeit. Jeden Mann, jede Frau und jedes Kind.«
»Sogar die Mönche?« fragte der Amerikaner.
»Die Mönche?« erwiderte Lhandro und sah ihn schwermütig an. »Nach dem Tag, an dem der Beschuß begann, habe ich jahrelang keinen Mönch mehr gesehen. Bei der Zerstörung der gompas in dieser Region erhielt kein Mönch je die Gelegenheit zur Flucht. Viele hier gingen in die lhakang , den Haupttempel, und beteten bis zuletzt. Einige gingen in die unterirdischen Schreine. Ich gehörte zu der ersten Gruppe Arbeiter, die hergeschickt wurde. Genaugenommen waren wir Sklaven, Sklaven für die Armee.«
Er starrte mit leerem Blick die Ruinen an. »Es gab keine vollständigen Leichen, nur Körperteile, und wir mußten all diese Überreste der Mönche in zwei der großen Löcher werfen, die von den unterirdischen Schreinen übriggeblieben waren. Dann mußten wir sie bedecken. Es gab keine Maschinen. Wir hatten bloß Schaufeln und Hacken. Wir haben die Mönche begraben, und dann verbrannten wir sechs Monate lang all die Balken und schleppten die Felsen weg.«
»Die Felsen?« fragte Winslow.
»Den Schutt der Gebäude. Praktisch jeder lose Stein wurde auf Lastwagen verladen, damit niemand das gompa wieder aufbauen konnte. Das Kloster war mehr als fünfhundert Jahre alt, und laut der alten Schriften hatte seine Errichtung fünf Jahrzehnte gedauert. Aus den Gemälden, Altären und Büchern türmte man Scheiterhaufen auf, die tagelang brannten. Alles, das nicht aus Metall oder Fels bestand, wurde ins Feuer geworfen. Und es gab jede Menge Steine. Ein Teil davon wurde weiter zertrümmert und im Straßenbau verwendet. Einen anderen Teil hat man in einen Armeestützpunkt transportiert, achtzig Kilometer von hier. Dort mußten wir dann daraus Unterkünfte für die chinesischen Eindringlinge bauen. Das dauerte noch einmal sechs Monate. Damals waren alle nur Sklaven der Chinesen.«
Er klang distanziert und sachlich, so wie Tibeter meistens klangen, wenn sie von den Tragödien der chinesischen Besatzungszeit erzählten. Lhandro mußte sich von den Ereignissen abgrenzen, sonst hätte er kein Wort über die Lippen bekommen. »Als wir hier fertig waren, mußten wir den Boden harken.«
Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Und danach mußten wir Salz verstreuen, damit nicht mal mehr eine Blume wachsen würde.«
»Mein Gott«, murmelte Winslow. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und sein Blick ruhte auf einer runden geschwärzten Erdmulde in etwa zehn Metern Entfernung. Es handelte sich, erkannte Shan, um einen kleinen Granattrichter. »Es ist, als wäre es gerade erst geschehen.«
Nein, doch nicht ganz. Man hatte neue Steine hergebracht oder ausgegraben und mit ihnen die Umrisse einiger der alten Fundamente nachgezeichnet. Vier kleine Gebäude inmitten der Ruinen waren sogar wieder aufgebaut worden. Drei davon lagen auf der anderen Seite der alten Anlage in etwa dreihundert Metern Entfernung und wirkten wie gewissenhafte Rekonstruktionen. Das vierte entdeckte Shan erst, als er sich dem Rest der Außenmauer näherte: ein kleines, robustes und verputztes Steinhaus, das man mittels zweier neuer Wände in dem verbliebenen Winkel der Mauer errichtet hatte. Vor der Tür saß ein kleiner Junge und spielte mit Kieseln. Als er Shan sah, klappte sein Unterkiefer herunter, und er rannte sofort auf die anderen Gebäude in der Ferne zu.
Im selben Moment berührte Lhandro Shan am Arm. Er drehte sich um und sah, daß Lokesh leicht vornübergebeugt dastand, die Ruinen anstarrte und sich den Leib hielt, als habe man ihm einen Schlag versetzt. Dann wandte der alte Tibeter sich wankend ab, musterte mit qualvollem Blick erst die Bäume, dann den oberhalb gelegenen Hang und schließlich wieder die Ruinen. Er stolperte langsam vorwärts,
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