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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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glaubte mehr als einmal, das tiefe, durchdringende Geräusch eines Mantras aus dem Mund einer ganzen Schar versammelter Mönche zu hören. Er schloß die Augen und stellte sich den Duft des Wacholders vor, der in einer samkang verbrannte, einer jener zeremoniellen Kohlenpfannen, wie sie auf dem Gelände eines solchen gompa überall gestanden haben würden. Dann merkte er plötzlich, daß er allein war, und kehrte wieder zu vollem Bewußtsein zurück. Lokesh ging langsam auf die drei instand gesetzten Gebäude zu.
    Fünf Minuten später holte Shan den alten Freund wieder ein. Lokesh stand mit seinem schiefen Lächeln in dem kleinen Innenhof zwischen den neuen Bauten. Shan hatte sich den Wacholderduft nicht eingebildet. Am offenen Ende der Fläche stand auf vier Beinen eine fast anderthalb Meter hohe eiserne samkang , in der einige Zweige schwelten. Unter dem vorragenden Dach des mittleren Hauses hing eine faßgroße Gebetsmühle aus Kupfer und Silber. Ein kleines tibetisches Mädchen von höchstens sechs Jahren, dessen Wangen mit roter doja-Creme bestachen waren, stand mit ernstem Gesicht daneben und drehte die Mühle. Das Gebäude besaß eine schwere, präzise gefertigte Holztür und war mit dunkler Ockerfarbe gestrichen. Shan sah, wie Lokesh die Tür vorsichtig aufstieß und eintrat. Er folgte dem alten Tibeter in einen kleinen Versammlungsraum, eine dhakang , die mit glatten Steinplatten ausgelegt war und an deren Wänden drei zerlumpte alte thangkas hingen, Stoffgemälde mit Szenen aus dem Leben des ehrwürdigen Lehrers Guru Rinpoche. Eines der Bilder war zerrissen und unbeholfen wieder zusammengenäht worden, ein anderes dermaßen verblaßt, daß man darauf kaum noch etwas erkennen konnte.
    Shan dachte an das umliegende Ödland. So klein diese Häuser auch sein mochten, ihre Errichtung hatte eine gewaltige Aufgabe bedeutet. Jedes Brett, jede Steinplatte, jeder Nagel hatte von außerhalb hergebracht werden müssen, von irgendwo unten in der Außenwelt, vermutlich aus einer der Städte an der nördlichen Fernstraße, wenn nicht sogar von noch weiter her.
    Sie erkundeten die zwei Nachbargebäude und fanden heraus, daß eines den gonkang-Schrein eines Schutzgottes beherbergte, das andere eine kleine lhakang , eine Kapelle. Beide waren genauso sorgfältig und detailgetreu rekonstruiert worden wie die dhakang. In der Kapelle stand ein Altar aus gespaltenen Holzscheiten mit einer zwanzig Zentimeter hohen Bronzestatue des Mitfühlenden Buddhas und den sieben traditionellen Opferschalen, die alle unterschiedlich aussahen, wenngleich sechs aus Holz geschnitzt waren und nur eine aus angeschlagenem Porzellan bestand. Im hinteren Teil der gonkang sahen sie eine halbfertige Statue der Tara, deren eine Hand auf einer Lotusblume ruhte. Auf dem Boden waren Holzspäne verstreut, und auf einer nahen Bank lagen ein Fäustel und mehrere Beitel. Shan dachte an den Mann, den der Junge bei ihrer Ankunft gerufen hatte. Der Bewahrer.
    Als sie das Gebäude verließen, entdeckten sie einen neuen Besucher. Tenzin stand mit geschlossenen Augen vor der samkang , als wolle er ein Bad in dem reinigenden Rauch nehmen. Dann beobachteten sie, wie er die Augen öffnete und zu dem Kind ging, das inzwischen ziemlich erschöpft wirkte. Mit sanfter Geste bot Tenzin an, die Aufgabe zu übernehmen. Das Mädchen lächelte dankbar, trat beiseite, und der hochgewachsene stumme Tibeter begann mit der sich ewig wiederholenden Bewegung, so daß die Mühle keine einzige Umdrehung lang aussetzte. Im Westen Tibets waren Shan und Lokesh an einem einsamen Haus vorbeigekommen, in dem ein alter Mann und seine Frau in Vierstundenschichten und rund um die Uhr eine ähnliche Gebetsmühle drehten, die aus den Überresten eines zerstörten Klosters stammte. Sie seien nun schon zehn Jahre damit beschäftigt, hatten die beiden feierlich erklärt, denn wenn es ihnen gelänge, die Mühle zwanzig Jahre ohne Unterlaß zu drehen, wären die Götter so erfreut darüber, daß sie den Dalai Lama nach Tibet zurückbringen würden.
    Lokesh nahm Shans Arm und zog ihn sachte um eine Ecke des Gebäudes, um Tenzin nicht zu stören. Sie ließen ihn dort an der Gebetsmühle zurück, die er beständig weiterdrehte und dabei dem kleinen Mädchen zulächelte, das vor der Wand der lhakang saß.
    Die Schafe der Karawane lagen zufrieden am Ufer des kleinen Baches, der durch den Wacholderhain strömte, und wurden dabei von den Mastiffs und Anya im Auge behalten. Neben ihr lag Winslow im dichten

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