Das tibetische Orakel
Gras und hielt ein Nickerchen. Die Dörfler aus Yapchi standen mit gefüllten Teeschalen vor dem kleinen Haus am Mauerwinkel. Zu Shans großer Erleichterung saß der Mönch aufrecht auf einem Strohlager im Innern des schlichten Gebäudes, hatte ebenfalls eine Teeschale in der Hand und wurde von Nyma und dem Bewahrer umsorgt. Der Mann stand mit dem Rücken zu Shan und sagte etwas mit leiser und sanfter Stimme, während Nyma die Wunden des Mönchs wusch.
Shan drehte sich wortlos um, trat durch die offene Tür wieder hinaus und um die Ecke des Hauses, wo Lhandro auf einer roh behauenen Bank an der Mauer saß und seine Landkarte studierte. Als er auf den rongpa zuging, kam Nyma herbeigelaufen. »Er war es!« rief sie. »Dieser dobdob! Er sagt, er habe meditiert, als ein riesiger Mann aufgetaucht sei, ein Verrückter in der Aufmachung eines Dämons, mit geschwärzten Wangen. Ohne jeden Anlaß habe der Fremde dann mit dem langen Stab auf ihn eingeprügelt und Feuer nach ihm geschleudert.«
Die Nonne starrte Shan verwirrt und verängstigt an.
Lhandro rief einem der Dörfler etwas zu, woraufhin dieser zu den Pferden rannte und wegritt. Sogar hier auf der wilden entlegenen Ebene der Blumen mußten sie den chenyi-Stein beschützen.
»Wie konnte er das wissen?« fragte Lhandro. »Dieser Dämon folgt dem Auge, als würde es zu ihm sprechen.«
Nein, er folgt ihm nicht, dachte Shan. Der dobdob war vor ihnen von der Einsiedelei zur Ebene der Blumen gekommen, als hätte er gewußt, daß sie diesen Weg einschlagen würden. Hatte er die Lawine ausgelöst und den ursprünglichen Paß blockiert, damit sie einen Umweg über die Hochebene machen mußten? Hatte er den Mönch angegriffen und das Feuer in der Senke gelegt, um sie aufzuhalten oder zu verlangsamen? Oder hatte er abgewartet und den Drang verspürt, seinen Zorn an einem anderen Gläubigen abzureagieren?
»Lokesh hat gesagt, ein dobdob wache über die Tugenden«, sagte Nyma leise, als fürchte sie, belauscht zu werden. »Aber dieser hier geht auf die Tugendhaften los. Es ist, als wäre er das Gegenteil eines dobdob oder ein dobdob , der vom Bösen übermannt wurde.«
Sie sah Lhandro und Shan fragend an und seufzte, als keiner der beiden ihr eine Antwort gab. »Wenigstens wird der Mann wieder ganz gesund«, sagte sie, während Shan sich auf die Bank setzte. »Seine Augen sind klar. Er hat Hunger. Sein Name lautet Padme. Er hat uns erzählt, wo sein gompa liegt.«
Sie ging zu Lhandros Karte und zeigte auf einen Punkt namens Norbu am Ende eines Wegs, der im Osten bis zur Nord-Süd-Straße verlief. Mit dem Finger fuhr Lhandro von diesem Punkt zu einer Stelle, die wenige Kilometer unter ihnen auf der Ebene lag, und weiter entlang eines Pfades, der zunächst auf dem hohen Berggrat über ihnen nach Osten führte und dann nach Norden in die Provinz Qinghai und zum Tal von Yapchi abbog. »Wir haben von diesem Norbu gehört. Es ist eines der gompas , die vor fünf Jahren wieder öffnen durften. Mein Vater möchte, daß ich irgendwann im Winter dorthin gehe und mit dem Segen der Lamas zurückkehre. Es liegt nur fünfzehn Kilometer abseits unserer Route. Wir werden ihn morgen zu fünft hinbringen - vier, um die Decke zu tragen, einer als Ablösung.«
Er sah Shan verunsichert an. »Wir können einen Mönch nicht einfach in der Wildnis zurücklassen«, fügte er flehentlich hinzu.
»Nein, das können wir nicht«, pflichtete Shan ihm bei und ließ den Blick über die Ruinen schweifen. Tenzin war noch nicht wieder zwischen den Gebäuden zum Vorschein gekommen und drehte wahrscheinlich weiterhin die Gebetsmühle. Der stumme Tibeter hatte sich zum erstenmal nicht sogleich mit seinem Dungsack auf die Suche begeben, sobald sie ein Lager aufschlugen.
»Ihr bringt ihn und laßt mich allein zum Tal von Yapchi weiterziehen«, sagte Shan. »Mich und Lokesh.«
»Unmöglich«, protestierte Lhandro. »Der chenyi-Stein - die Karawane. Es ist unsere Aufgabe, euch zu begleiten.«
»Ich habe Angst vor dem, was dort auf uns warten könnte«, sagte Shan. »Der Oberst. Seine Gebirgsjäger. Sie wissen, woher das Auge ursprünglich stammt. Und bestimmt ist ihnen klar, daß es dorthin zurückgebracht wird.«
»Es ist unsere Heimat«, verkündete Lhandro mit entschlossenem Blick. »Ich wohne in einem Haus, das vor vielen Generationen von meiner Familie errichtet wurde, und ich werde nicht zulassen, daß Soldaten mich von dort fernhalten.«
»Eines solltest du unbedingt begreifen«, stellte Shan sachlich
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