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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einen Lama, der ausschließlich den Zeitpunkt der Zubereitung lehrte.«
    Shan mußte an das seltsame und unheimliche Gefühl denken, das er draußen auf dem Plateau verspürt hatte. »Den Zeitpunkt?«
    Lokesh nickte ernst. »Gewisse Arzneien sollten nur zu bestimmten Jahreszeiten angemischt werden, andere benötigen zur Entfaltung ihrer vollen Wirkung eine festgesetzte Tageszeit oder einen speziellen Ort der Herstellung.«
    Er starrte auf die kahle Erde zu seinen Füßen. »Es gab hier im Kloster, draußen auf der Ebene und in den umliegenden Bergen besondere Heilpflanzen, die sonst nirgendwo wuchsen«, sagte er und ließ den gequälten Blick über das nunmehr öde Gelände schweifen. Sein Mund öffnete und schloß sich einige Male, doch es kam kein Wort über seine Lippen, und seine Augen schimmerten feucht. Die Chinesen hatten den Boden mit Salz vergiftet.
    »Im Sommer war es immer ein so fröhlicher Ort«, fuhr Lokesh nach einer Weile fort, und eine tiefe Sehnsucht schlich sich in seine Stimme. »Die Lamas sind mit uns auf die Ebene oder in die Berge gegangen, und wir haben Zelte aufgeschlagen, so daß wir wilde Pflanzen sammeln und studieren konnten. Manchmal haben wir den Medizinmachern große Säcke voller Kräuter mitgebracht. Sie sangen spezielle Lieder, um die Heilkraft der Pflanzen und der besonderen Nahrung, die sie aßen, zu erwecken. Damals gab es hier ein Dutzend Lamas, die über hundert Jahre alt waren. Ich habe einen von ihnen gefragt, ob er wegen der besonderen Kräuter so alt geworden sei. Er wurde sehr ernst und sagte, es läge nicht an den Kräutern, sondern an den Liedern, denn dadurch seien sie in ständiger Verbindung mit den Göttern geblieben, die in diesem Land wohnten. Er und die anderen kannten Lehrgesänge, die den ganzen Tag dauerten, ohne daß auch nur eine einzige Strophe sich wiederholte.«
    Lehrgesänge. Lokesh meinte die Rezitationen uralter Texte, mitunter begleitet von Hörnern, Zimbeln und Trommeln.
    »Sie sind verloren«, sagte Lokesh leise. »Einige von ihnen sind auf ewig verloren.«
    Seine Stimme zitterte, und er sah Shan an, als wolle er ihn nach dem Grund fragen. »Weg«, sagte er mit hörbarer Qual.
    Die Lieder seien in Vergessenheit geraten, meinte er. Denn die Lamas, die sie sich eingeprägt hatten, waren ermordet worden, ohne sie vorher an die nächste Generation weitergeben zu können.
    »Warum gerade hier?« fragte Shan nach einem Moment. »Du hast dich an eine ganz bestimmte Stelle gesetzt.«
    Lokesh blickte mit traurigem Lächeln auf. »Es gab hier einen Lama namens Chigu. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er hundertfünf Jahre alt. Er hatte lange als Abt gedient, im Alter von fünfundsiebzig dieses Amt jedoch niedergelegt, um fortan seine gesamte Zeit der Meditation und der Herstellung von Arzneien zu widmen. Da drüben lag ein kleiner Innenhof mit Glyzinienranken.«
    Lokesh hielt inne und deutete in Richtung der rekonstruierten Gebäude. »Dort hat er uns das Trocknen und Hacken von Kräutern und Wurzeln beigebracht. Es waren ziemlich große Hackmesser, und gelegentlich hat einer der Schüler einen Finger verloren.«
    Lokesh hielt erneut inne. Eine Flut von Erinnerungen brach über ihn herein. »Jeden Sommer sind er und ich hinaus auf die Ebene gezogen, nur wir beide, allein auf den Wildpfaden, eine ganze Woche am Stück. Wir haben Kräuter gesammelt, gebetet und nachts den Himmel betrachtet. Hoch oben gab es Stellen, an denen man sich auf einen flachen Felsen setzen und nichts mehr vom Boden sehen konnte, nur noch den Himmel, und so haben wir das immer als Himmelssitzungen bezeichnet. Er hat mir Sachen erzählt, die sein eigener Lehrer ihm anvertraut hatte. Als der 1903 im Jahr der Sumpfhäsin starb, war er hundertfünfzehn Jahre alt. Chigu Rinpoche berichtete mir Dinge, die sein Lehrer während der Zeit des achten Dalai Lama erlebt hatte«, sagte Lokesh staunend. Der achte Dalai Lama war im achtzehnten Jahrhundert gestorben. »Hier nachts in der Wildnis zu sitzen und mit der Zeit des Achten durch eine Kette von lediglich zwei Zungen verbunden zu sein, hat sich irgendwie in meine Seele eingebrannt. Hier hat er gewohnt, hier lag die Kammer, in der ich ihn bei meiner Ankunft im Sommer immer begrüßt habe.«
    Die letzten Worte brachte der alte Tibeter nur noch mit erstickter Stimme hervor, weil er vom Schmerz überwältigt wurde.
    Sie saßen lange schweigend da und lauschten dem Wind. Shan ließ seinen Geist treiben, nahm den heiligen Ort in sich auf und

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