Das tibetische Orakel
haben es mit angesehen. Er hat ihn in den Kopf geschossen und gelacht. Dann bezahlte man einen dropka dafür, uns den Toten zurückzubringen. Das Gold ließ man in seine Tasche einnähen. Später kamen Mönche zu uns und schickten meine Familie nach Yapchi, damit sie sich dort bei den Überlebenden entschuldigen und ihnen beim Bau neuer Häuser helfen würde, aber sogar die anderen goloks verachteten uns mittlerweile. Es gab Geschichten, daß im Sommer alte Mönche nach Yapchi kamen und kranke goloks dort um Heilung nachsuchen konnten, aber das alles hörte schlagartig auf, weil die Leute dort uns so sehr haßten.«
Er blickte wieder zum Horizont. »Danach haben wir uns natürlich den Banditen angeschlossen.«
Er stieß mit dem Fuß einen Stein über die Kante. »Diese Lujun-Soldaten haben meine Familie zerstört«, erklärte er. »Meine Onkel sind mit Straßenräubern weggeritten oder in den Städten verschwunden. Eines Sommers hat mein Vater mich zu diesem Berg mitgenommen, um einen Mönch zu finden, irgendeinen Mönch, der meiner Familie aus der Finsternis helfen konnte, die über sie gekommen war. Doch inzwischen gab es dort keine Mönche mehr, also hat er tagelang meditiert und versucht, die Yapchi- Gottheit zu erreichen. Aber statt dessen wurde er immer trauriger. Er wußte, daß der Berg ihn bestrafte. Bald darauf ist er gestorben, und meine Mutter ging zur Arbeit in die Stadt und schrubbte chinesische Fußböden. Ich war vierzehn und hatte mein eigenes Pferd«, schloß Dremu, als würde dies erklären, weshalb er nicht mitgekommen war.
Die drei Männer standen im kühlen Wind. Ein kaum merklicher Blumenduft drang an ihre Nasen, als würde ein Hauch Weihrauch über die Ebene wehen. Die Tibeter benutzten Weihrauch, um die Götter anzulocken. Vielleicht lag einfach irgend etwas in der Luft, dachte Shan, das erst Winslow und dann Dremu veranlaßt hatte, von ihren persönlichen Tragödien zu erzählen. Shan war sicher, daß die rongpas aus Yapchi nichts von Dremus Geschichte wußten - und er hatte keine Ahnung, wie sie womöglich darauf reagieren würden. Er vermutete, daß auch Winslow nur selten mit jemandem über seine Erlebnisse sprach, auch nicht mit anderen Amerikanern.
»Was meinen Sie mit dem Auge?« fragte Winslow den golok. »Sie haben im Zusammenhang mit den Lujuns ein Auge erwähnt.«
Dremu deutete auf Shan, der das Gesicht verzog und dann von dem Auge und dem Tal berichtete. Doch er hatte den Eindruck, daß er immer weniger verstand, je näher er Yapchi kam.
Die Geschichte brachte die Traurigkeit zurück auf Winslows Antlitz. Er sah seine Gefährten nacheinander an und schien etwas sagen oder fragen zu wollen, doch am Ende drehte er sich um und ging langsam den Hang hinunter auf die Pferde zu.
»Wie haben die purbas dich gefunden?« fragte Shan, während er mit Dremu dem Amerikaner folgte. »Sie haben dich nicht bloß als Führer ausgewählt, sondern auch wegen deiner Kenntnisse über das Auge.«
»Mich gefunden? Ich habe sie gefunden«, sagte der golok leise und beugte sich dicht zu Shan herüber, als fürchte er, die Felsen könnten ihn belauschen. »Die anderen wußten bloß, daß die 54ste es im Besitz hatte, aber ich habe herausgefunden, wo genau es steckte. Ich habe den Tibeter ausfindig gemacht, der von den Chinesen dafür bezahlt wird, ihre verdammten Latrinen zu putzen, und mir ein paarmal seine Kennkarte ausgeliehen. Auf dem Tisch des Obersts habe ich das Auge schließlich entdeckt. Auf dem Tisch von diesem Scheißkerl Lin. Dann habe ich einen Plan ausgearbeitet, einen sorgfältigen Plan, doch eines Nachts wurde ich außerhalb des Armeehauptquartiers von einigen purbas erwischt, die wissen wollten, was ich dort machte. Als ich ihnen erzählte, ich wolle das Auge stehlen, lachten sie nur, hielten mich aber zwei Tage in einem Haus gefangen. Dieser Drakte kam und sagte: Nein, stehle das Auge nicht, wenn du den Chinesen richtig weh tun willst, sondern verrat uns einfach nur, wie man in Lins Büro gelangt. Dann geh zu dieser Einsiedelei, und hilf dabei, das Auge nach Yapchi zu bringen. Drakte sagte, sie würden mich für das bezahlen, was die goloks schon immer am besten konnten, nämlich sichere Wege durch die Berge zu finden und den Truppen auszuweichen. In Lhasa wollten sie mich nicht haben. Weil es schon jemand anderen gab, der das Auge stehlen mußte.«
Und als hätte er zugehört, reagierte der Berg Yapchi wiederum mit einem bedrohlichen Grollen.
Kapitel 7
Sie ritten im schnellen
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