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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Trab über die Hochebene, und die Pferde schienen begierig darauf zu sein, die Karawane einzuholen. Vielleicht ging es den Tieren ebenso wie ihm, dachte Shan, und das Plateau beunruhigte sie, weil sie eine vage Präsenz, eine unsichtbare Anspannung verspürten. Er fand keine Worte, um das Gefühl zu beschreiben. Es war keine Angst, wenngleich Dremu sich häufig in den Steigbügeln aufstellte und sich umsah, als würde er Verfolger befürchten. Während des Ritts über die wilde, entlegene Ebene gab es sogar Momente, in denen Shan eine unerwartete Heiterkeit empfand. Die hohen Grate, die sie auf drei Seiten umgaben, verliehen dem Ort eine Aura der heimlichen Abgeschiedenheit, so daß man sich wie in einer unberührten fernen Welt vorkam.
    Als sie die Karawane fast erreicht hatten, zügelte er sein Pferd und stieg ab, so daß Dremu und Winslow vor ihm am Ziel eintrafen und er das letzte Stück zu Fuß ging. Er betrachtete die Kolonne aus Tieren und Menschen auf der windgepeitschten Ebene und erkannte, daß er ihre Reise im Verlauf der ruhigeren Momente der letzten paar Tage immer häufiger als eine Pilgerfahrt begriffen hatte. Was für eine sonderbare Gruppe sie doch waren: das Mädchen, das für die Götter sprach. Nyma, die verunsicherte illegale Nonne. Die rongpas , die glaubten, ein gezacktes Stück Stein würde sie vor den Chinesen beschützen. Dremu, der verbitterte Krieger, der nach einer Möglichkeit suchte, seiner Familie die Würde zurückzugeben. Vielleicht waren sie eher Flüchtlinge als Pilger. Tenzin, der entwichene Strafgefangene. Der Amerikaner, der einem Leben und einer Karriere voll tiefer Enttäuschungen entkommen wollte. Womöglich auch die Dorfbewohner aus Yapchi, nachdem Oberst Lin Lhandro und Nyma gesehen sowie Lhandros Papiere beschlagnahmt hatte.
    Die Karawane zog in ein kleines Gehölz. Nyma und Anya, die am Ende der Kolonne gingen, blieben stehen und musterten ein paar steinerne Umrisse auf dem Hang jenseits der Bäume. Dann liefen sie in die Schatten, als seien sie neugierig geworden. Lhandro wartete, bis alle Schafe und Pferde sich an dem kleinen Bach versammelten, der durch den Hain verlief, und bedeutete Shan und Winslow, ihm auf einem Pfad zur anderen Seite zu folgen. Shan hielt nach Lokesh Ausschau und sah, daß der alte Tibeter den Dörflern half, das Salz von den Schafen abzuladen. Dann folgte er den beiden Männern durch die Bäume.
    Shan hatte in Tibet schon viele Klosterruinen gesehen; zumeist handelte es sich um das Werk der Armee und später der Roten Garden, die nur eine Handvoll der sechstausend gompas übriggelassen hatten. Doch als er unter den Bäumen hervortrat, wurde ihm klar, daß er ein solches Bild der totalen Zerstörung dennoch nicht gewohnt war. Einst hatten sich hier Dutzende großer Gebäude über den Hang und den Boden der Ebene bis zum Ufer des Baches erstreckt. Nun war außer den Resten der Fundamente und ein paar Haufen aus Mauertrümmern nichts mehr da. Rund um das ganze Gelände verlief eine Steinreihe, Überbleibsel einer dicken Außenwand, die nur noch an einer einzigen Ecke Bestand hatte, wo sich ein fast drei Meter hoher Abschnitt über die Ruinen erhob.
    »Will hier jemand etwas bauen?« fragte Winslow.
    Shan sah ihn verwirrt an. Es dauerte einen Moment, bis er begriff. Überall zwischen den alten Fundamenten sah man Rechtecke aus kleinen, präzise aneinandergelegten Steinen. Auf einen flüchtigen Betrachter mochte dieser Ort weniger wie eine Ruine als vielmehr wie der Grundriß eines neuen gompa wirken.
    »Ich habe ganz vergessen, wie es hier einmal ausgesehen hat. Bei meinem letzten Besuch war ich noch ein kleiner Junge«, sagte Lhandro leise, als er sich zu ihnen gesellte. Der rongpa ging langsam an den Resten der Außenwand entlang, als fürchte er sich davor, diese Grenze zu überschreiten. »Die Armee ist mit großen Kanonen gekommen, angeführt von Maos Kindern.«
    Maos Kinder. Es war ein Euphemismus für die Roten Garden, die fanatischen Horden chinesischer Jugendlicher, die Mao Tsetung während der Kulturrevolution entfesselt hatte. Die Roten Garden hatten Bibliotheken, Universitäten, Krankenhäuser sowie jede andere Einrichtung zerstört, die nach ihrer Deutung für die verhaßten vier »Alten« stand - alte Kultur, alte Bräuche, alte Denkmuster und alte Gewohnheiten. Bisweilen waren ihnen für die politischen Säuberungskampagnen komplette Militäreinheiten unterstellt worden.
    »Wir alle dachten, es müßten sich in dieser Gegend

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