Das tibetische Orakel
viele wohltuende Stunden an solchen Quellen verbracht, vornehmlich weil der alte Tibeter das brennende Interesse verspürte, die Besonderheit des jeweiligen Ortes genau zu ergründen. Lokesh wies gern darauf hin, daß allein schon das Verständnis dieser Besonderheiten einen Großteil der Geschichte Tibets erzählte. Wie so viele glaubte auch er, daß das Land nicht deswegen heilig war, weil viele fromme Buddhisten es seit unzähligen Jahrhunderten bewohnten. Das Land locke sie zu diesen Quellen, behauptete Lokesh oft, und mit jedem Ort verbinde sich nicht nur die Geschichte seiner zumeist vor einer Ewigkeit erfolgten Entdeckung durch die Gläubigen, sondern auch die der Alten, die zuvor dort gewesen seien. An einer Quelle in Zentraltibet, die von Schutt und Geröll umgeben war, obwohl die Hänge sonst aus solidem Granit bestanden, hatte Lokesh beschlossen, daß vor vielen tausend Jahren, als die Luftgeister in Gestalt von Riesen zu reisen pflegten, dies ein beliebter Aufenthaltsort gewesen sei. Durch ihre häufigen Landungen hätten die Riesen alle umliegenden Felsen zertrümmert.
Während sie rasteten, suchte Winslow die Ebene der Blumen mit dem Fernglas ab.
»Ist Ihnen eingefallen, aus welchem Grund die Geologen der Ölfirmen sich auf diese Hochebene begeben haben könnten?« fragte Shan.
Winslow setzte das Fernglas nicht ab und schüttelte nur leicht den Kopf. »Die Ölkonzession erstreckt sich bloß bis zur Grenze der Provinz Qinghai, mindestens acht Kilometer nördlich von hier«, sagte er und sah Shan an. Dremu hatte die leeren Konservendosen am anderen Ende der Ebene und somit noch weiter außerhalb des Konzessionsgebiets entdeckt.
»Warum würde die Frau ihre Weste und den Schlafsack zurücklassen?« fragte Shan sich laut.
»Keine Ahnung«, entgegnete der Amerikaner mit ausdrucksloser Stimme. »Vielleicht hat dieses Wesen, das Padme angegriffen hat, auch sie erwischt. Womöglich ist es sich nicht sicher, wer das Steinauge hat, und greift daher jeden an, der ihm auf einer der nördlichen Routen über den Weg läuft.«
Er steckte das Fernglas ein, kniete sich kurz an die Quelle und schöpfte eine weitere Handvoll Wasser. Nachdem er es eine Weile betrachtet hatte, hob er den Arm, schüttete sich das Wasser über den Kopf, schloß die Augen und ließ es hinabrinnen. Als er dann die Augen wieder öffnete, sah Shan ein starke Gemütsregung darin aufblitzen. Verzweiflung, dachte er, oder tiefe Trauer.
»Bei den Firmenunterlagen befand sich ein Brief, den sie an ihre Mutter geschrieben hat«, sagte Winslow unvermittelt, als hätte das Wasser die Erinnerung freigesetzt. »Ihr Vorgesetzter hat ihn mir gezeigt. Er hatte den Brief nicht abgeschickt, weil er angesichts von Larkins ungeklärtem Verschwinden befürchtete, die Angelegenheit könne zu schmerzvoll werden. Er sagte, die Firma habe ihn angewiesen, den Umschlag zu öffnen, um nach Hinweisen auf Selbstmord zu suchen. Ihre Mutter ist Professorin in Minnesota. Ich schätze, die beiden haben sich in ihren Briefen oft über tiefgreifende Dinge unterhalten.«
Winslow starrte ins Wasser, als spräche er zu etwas in der Tiefe, irgendwo am unterirdischen Ursprung des heiligen Wassers.
»Ich meine wirklich bedeutende Dinge. Sie schrieb, sie wünsche sich, all ihre Arbeit könnte in Tibet stattfinden, und daß die Provinz Qinghai entgegen der chinesischen Behauptungen das wahre Tibet sei; daß die Leute in den Bergen ihr Sachen beibringen würden. Sie sagte, sie liebe Tibet, hasse hingegen, was ihre Firma dem Land antue. Die Tibeter hätten sie gelehrt, daß der wichtigste Antrieb zur Erhaltung der menschlichen Lebenskraft die Verbindung mit dem Land sei und daß die Welt sich in Menschen ohne diese Lebenskraft und dem Land verhaftete Menschen geteilt habe. Letztere hätten die heilige Pflicht, die Lebenskraft zu beschützen.«
Winslow blickte vom Wasser auf. »Und sie hat für eine Ölfirma gearbeitet.«
Wieder schien so etwas wie Schmerz über sein Gesicht zu huschen, als hätte dieser Widerspruch ihm schon viel Kopfzerbrechen bereitet. »Am Ende des Briefes schrieb sie, daß einige Tibeter ihr erzählt hätten, ein Geologe sei in Wahrheit ein besonderer Mönch, der das Verhalten der Landgottheiten studiere.«
Winslow schaute abermals zu dem schwarzen Fleck, aus dem das Wasser der Erde entsprang, als warte er darauf, daß ein solches Wesen auftauchen und ihm eine Erklärung liefern würde. »Sie schrieb, ihre tibetischen Freunde wollten sie in ein verborgenes
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