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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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genießen«, spöttelte Winslow in derselben Sprache, und der Mönch starrte ihn mit großen erstaunten Augen an.
    »Ein Amerikaner, der Tibetisch spricht?« rief er und musterte neugierig Lhandro und Shan, als würde diese Erkenntnis seine Ansicht über die Gruppe irgendwie verändern.
    Sie würden noch bis zum nächsten Tag bei den Ruinen bleiben, verkündete Lhandro. Die Männer aus Yapchi sollten unterdessen die Umgebung per Pferd auskundschaften. Am folgenden Morgen würde die Karawane ihre Reise nach Norden fortsetzen, während einige aus der Gruppe Padme sicher zu seinem gompa zurückbegleiteten. Der Mönch bedankte sich und führte die Dorfbewohner zu einer Stelle im Windschatten der Mauer, wo er sich mit ihnen niederließ, um Mantras an den Mitfühlenden Buddha zu richten.
    Eine Viertelstunde später trabten die Reiter in alle Himmelsrichtungen davon. Nyma ging zum Eingang des Hauses, sprach mit jemandem im Innern und bückte sich dann, um ihre Schnürsenkel neu zu binden. Gangs Frau tauchte auf und deutete auf einen alten Trampelpfad, der außen um das ehemalige Kloster verlief. Nein, nicht auf den Pfad, sondern auf eine Person: Tenzin, der langsam und nachdenklich auf das andere Ende der Ruinen zuhielt.
    »Der kora« , sagte Lokesh, der plötzlich begriff. Es war ein Pilgerpfad. Viele alte Schreine und gompas hatten solch einen kora , auf dem Pilger sie umrunden konnten, um sich auf diese Weise Verdienste zu erwerben und den gegenwärtigen oder einstigen Bewohnern ihre Achtung zu bezeugen.
    »Vorbei an der Wand im Norden bis zu einer alten Einsiedlerhöhle«, erklärte Gangs Frau und deutete in Richtung der drei Gebäude, als würde die Außenmauer noch immer existieren. »Dann nach oben bis hinter den drup-chu-Schrein« , sagte sie und meinte damit einen Schrein an einer Quelle, aus der etwas entsprang, das die alten Tibeter wegen seiner segnenden und heilenden Wirkung Erkenntniswasser nannten. Lokesh bückte sich und zog ebenfalls die Schnürsenkel fest, um dann erwartungsvoll zu Shan aufzublicken. Shan lächelte und holte eine Wasserflasche von dem Stapel Decken an der Mauer, wo die Angehörigen der Karawane geschlafen hatten. Nur Dremu hatte wie üblich beschlossen, die Nacht allein zu verbringen, und sich irgendwo in der Nähe versteckt.
    Als Shan zurückkehrte, sah Lokesh mit verwirrter Miene Lhandro, Nyma und Anya hinterher. Die drei Dörfler aus Yapchi hatten sich auf den Pfad begeben, dabei aber die östliche und somit gegen den Uhrzeigersinn gewandte Richtung eingeschlagen. Verwundert neigte Lokesh den Kopf. Hinter Shan seufzte jemand enttäuscht auf. Padme stand im Eingang des Hauses, stützte sich am Türrahmen ab und musterte das Trio.
    »Warum haben wir das nicht gewußt?« grübelte Shan. Erst als Lokesh sich zu ihm umdrehte, wurde ihm klar, daß er die Frage laut ausgesprochen hatte.
    Lokesh lächelte. »Es gibt viele Wege«, sagte er zufrieden. Viele Wege zur Erleuchtung, sollte das heißen. Die traditionellen tibetischen Buddhisten, ganz gleich, welchem der größeren Orden sie sich zugehörig fühlten, folgten einem solchen Pilgerpfad stets im Uhrzeigersinn. Es war Teil der Tradition und stellte in sich schon eine Form der Ehrerbietung dar.
    Doch es gab noch eine andere, uralte Glaubensrichtung in Tibet, die auf dem Animismus basierte. Sie hieß Bon und war zwar weitgehend im Buddhismus und den meisten seiner Lehren aufgegangen, besaß jedoch immer noch einige charakteristische Eigenheiten; eine davon lautete, daß Pilger einen kora gegen den Uhrzeigersinn beschritten.
    »Wir hätten es wissen müssen«, beantwortete Shan sich die Frage selbst. Es erklärte viel, vor allem weshalb die Bauern aus Yapchi dermaßen inbrünstige Hoffnungen an das Steinauge und ihre Landgottheit knüpften und warum sie diesen Verlust vier Generationen lang betrauert hatten.
    Als Shan und Lokesh sich im Uhrzeigersinn auf den Weg machten, stimmte der alte Tibeter leise einen seiner Pilgerverse an. Einige Minuten später hörten sie hinter sich hastige Schritte und sahen, daß Winslow sich bemühte, sie einzuholen. Er reckte seine Wasserflasche empor. »Ich brauche dringend Erkenntnisse.«
    Er grinste.
    Zwei Stunden später hatten sie drei Viertel des Pfades hinter sich gebracht und erreichten auf dem Hang oberhalb des Klosters den drup-chu-Schrein. Nachdem jeder von ihnen niedergekniet war und aus der heiligen Quelle getrunken hatte, füllte Winslow die Wasserflasche. Shan und Lokesh hatten auf ihren Reisen

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