Das tibetische Orakel
dann flammte sein Blick wieder auf. Er nahm den Beitel, steckte ihn ein und starrte Shan haßerfüllt an.
»Er ist keiner von.«, setzte Lhandro an und suchte nach den passenden Worten. »Er ist wie du, Gang.«
Der Mann schnaubte verächtlich, als wolle er ausdrücken, niemand könne wie er sein, doch sobald sein Sohn ihn bei der Hand nahm, schien er sich wieder zu beruhigen. Sein Blick schweifte über das Gelände, und er ließ sich von dem Jungen zurück durch die Ruinen führen.
Shan wankte zu der Bank und setzte sich. Dann schaute er dem Mann hinterher, der zu den Schreinen ging. Gang. Das hieß Stahl, ein Name, wie ihn treue Mao-Anhänger ihren Kindern verliehen hatten, vor mehr als vierzig Jahren, während einer der fanatischen Kampagnen zur Steigerung der Stahlproduktion.
»Mein Mann ist kein.«, setzte eine Stimme neben Shan an. Er wandte sich um und sah die Frau mit dem Kind dort stehen. »Gang ist gar nicht so.«
Sie musterte den seltsamen zornigen Mann und schien gleich in Tränen ausbrechen zu wollen. »Mein Mann hat diese Schreine errichtet«, brachte sie zu seiner Verteidigung vor und bat dann den Jungen, Shan eine Schale Tee zu holen. »Er hat fast zehn Jahre dafür gebraucht.«
Lhandro ging an Shan vorbei, um dem Mönch zurück ins Haus zu helfen. »Gang hat schlimme Erinnerungen«, sagte der Bauer entschuldigend und sah dabei erst Shan und dann den Mönch an. »Es tut mir leid. Ich habe ihn schon viele Jahre nicht mehr gesehen und hatte es ganz vergessen.«
Schlimme Erinnerungen. Es war ein Schlagwort, ein weiteres Beispiel für den merkwürdigen Sprachgebrauch all jener, die im Schatten Pekings gelebt hatten, eine Möglichkeit, die Qualen derjenigen auszudrücken, die den blutigen Schrecken erlitten hatten, durch den beinahe ihre gesamte Welt ausgelöscht worden war.
Der Bewahrer Gang hatte schlimme Erinnerungen. Aber woran? Shan hatte noch nie gehört, daß Tibeter einem Chinesen schlimme Erinnerungen bescheinigten.
»Ich habe von einem Gerücht gelesen, in den Bergen gebe es einen Chinesen, der Tempel baut«, sagte der Mönch mit schwacher, aber gebildeter Stimme. Er sah quer über die Ruinen zu dem Bewahrer, der mittlerweile fast bei den drei Gebäuden angekommen war. »Aber hier oben«, sagte er verblüfft und schüttelte den Kopf. »Wir haben das Gerücht für unwahr gehalten. Niemand kommt hierher. Der Wind ist so kalt. Wir dachten, hier gäbe es bloß Ruinen und die Wildnis.«
Er stützte sich an der Wand ab, als sei ihm auf einmal schwindlig geworden, und Nyma half ihm zurück zu seinem Strohlager.
Gangs Frau ließ sich neben Shan auf die Bank sinken. »Er ist 1964 als Jugendlicher mit der Volksbefreiungsarmee hergekommen.«
Mit knappen Worten schilderte sie, wie Gang als junger Unteroffizier der Besatzungstruppen nach Tibet gekommen war, im Anschluß an seine Dienstzeit Land von der Armee erhalten und eine zusätzliche Prämie für die Heirat mit einer Tibeterin bekommen hatte. »Er hat meine Schwester geheiratet«, erklärte die Frau in traurigem Tonfall, »und sich mit ihr auf einem Stück Land nahe der nördlichen Straße nach Amdo niedergelassen, einem Teil unseres angestammten Familienbesitzes. Sie hatten einen Sohn, und alle waren glücklich. Gang wurde Buddhist. Einmal, als sein Sohn sehr krank war, kam ein Lama-Heiler aus Rapjung gompa und rettete dem Kind das Leben. Danach besuchte Gang das Kloster so oft er konnte und ging den Lamas bei der Anpflanzung ihrer besonderen Kräuter zur Hand, immer ein oder zwei Wochen im Frühling, um den Boden vorzubereiten, und eine Woche im Herbst, um beim Ernten und Trocknen zu helfen. Dann jedoch kamen diese Kinder, nachdem sie Rapjung zerstört hatten. Die Roten Garden«, sagte sie unheilvoll. »Gangs Frau hatte sich Sorgen um ihren Vater gemacht und war mit dem Sohn aufgebrochen, um ihm bei der Flucht in die Berge zu helfen. Aber die Garden holten sie ein und hielten ein Standgericht ab. Die Familie wurde für schuldig befunden, der tyrannischen Klasse der Landbesitzer anzugehören.«
Sie sah Shan an und senkte den Blick. »Die Richter verkündeten das Urteil, und mein Neffe mußte es vollstrecken«, sagte sie beinahe flüsternd.
Shans Kopf sackte herunter. Er stützte ihn auf beide Hände und mußte gegen eine plötzliche Atemnot ankämpfen. Die Frau meinte, daß die Roten Garden das Kind gezwungen hatten, Mutter und Großvater hinzurichten.
»Dann hat man den Jungen weggebracht«, fügte sie ausdruckslos hinzu.
Wer damals als
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